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Ungelesen

Der Autor ist tot, ist neulich gestorben,

ist morgens ganz einfach nicht wieder erwacht.

Er war schon recht alt, wär bald 90 geworden –

die Andern und ich haben Tränen gelacht

bei all seinen Worten und Sätzen, Geschichten

von Helden und Schurken durch Welten gelenkt

in wohlklingender Sprache in Versen, Gedichten;

hat Zeit seines Lebens uns Träume geschenkt.

Die Wohnung ist leer doch so voller Seele.

Am Schreibtisch noch immer sein uralter Hocker.

Ich lächle, als ich ihn dort nachdenken sehe

über tollkühne Epen oder blutige Schocker,

die Finger voll Tinte, gebeugt über Blätter –

vergangene Bilder nur in meinem Kopf…

…seh wie ich als Junge den Zaun rüber kletter,

nervös und gespannt an die Holztüre klopf,

den Autor zu fragen, was heute geschieht –

ob der Prinz die Prinzessin verliert oder küsst,

der Ritter dem Monster nur haarbreit entflieht,

ob die Welt seiner Helden zu retten noch ist.

Viel später hab ich als Erwachsener erfahren,

dass manche der Monster in seinen Romanen

nicht vollkommen frei erfunden nur waren;

dass mancher der Kämpfer den toten Kumpanen

ein Andenken setzte auf ewige Zeiten…

So schrieb er und schrieb und las es uns vor,

unzählige Male auf tausenden Seiten

wo niemals der Gute gegen Böses verlor.

All das ist lang her, die Jahre vorbei.

Ich greif nach dem ersten beschriebenen Blatt

und fühl mich als ob es erst Stunden her sei,

als er diese Worte ersonnen hat.

Mit schnörkliger Handschrift stehen Zeilen geschrieben,

sie saugen mich ein in andere Welten.

Ich lern die Figuren und Orte zu lieben,

ich kämpf und ich träum mit dem tollkühnen Helden.

Minuten vergehen, vielleicht eher Stunden –

die Sonne steht tiefer, die Schatten verdunkeln;

ich hab meinen Platz in den Worten gefunden –

vorm Fenster seh ich erste Sterne funkeln…

… denn Zeiten vergehen bei Zeiten im Flug.

Ich senke den Blick, um weiter zu lesen,

ich hab von den Bildern noch lang nicht genug.

Doch es scheint leider so, als wärs das gewesen –

ein Schlag ins Gesicht, so fühlt es sich an…

Die Worte zu Ende, ich starre ins Leere

und weiß es ganz sicher dass keiner mehr kann

erfahren, was weiter geschehen noch wäre.

Das Ende von dieser und vielen Legenden

hat der Autor mit zu den Sternen genommen.

Wer außer ihm könnte jemals beenden,

was er mit viel Herzblut zuletzt hat begonnen?

So laufe ich langsam bedächtig hinaus,

die Straße entlang durch die friedliche Nacht.

Ich sehe die Menschen auf dem Wege nach Haus,

sie haben noch schnell ihren Einkauf gemacht.

In Eile und Hast hält man Häupter gesenkt –

da trifft die Erkenntnis ganz tief in mir drinnen,

dass jeder von uns sich Geschichten ausdenkt –

würden wir dessen uns nur öfter besinnen!

Milliarden Gedanken, Worte und Zeilen

schlummern in Köpfen da draußen und weiter.

Würden all diese Menschen doch einfach bisweilen

Papier virtuell oder Stifte ergreifen!

Manch wertvoll Geheimnis, manch tollkühner Plan,

ergreifender Vers und manch mutiges Wort,

reift sicher in manch einem Geiste heran,

Metaphern und Fabeln sehe ich dort.

Hast auch du lieber Leser Geschichten im Kopf?

Dann lass sie nur raus, beginn mit dem Schreiben!

Denn drückt ER bei dir auf den Ausschalten-Knopf,

werden sie für immer ungelesen bleiben.

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