Im Fackelschein
Triggerwarnung: Benötigt man eine Triggerwarnung "Achtung gruselig" auf einer Seite mit Gruselgeschichten? Besser einmal zu viel, als einmal zu wenig... Also: Hier werden Urängste des Menschen angesprochen und die (dunkle) Fantasie angeregt. Wer so etwas nicht mag, schaut besser weg! ;-)
Im Fackelschein werfen wir wild flackernde Schatten in die Umgebung, die noch schwärzer als die Dunkelheit der Nacht durch die Bäume zucken und mich immer wieder nervös zur Seite blicken lassen. Unsere Fackelwanderung durch den eisigen Winterwald Richtung Mühlenhof, wo eine festlich gedeckte Tafel auf mich und die Kollegen aus der Abteilung wartet, hat eine ungeplante Verlängerung erfahren. Als wir eben unerwartet an dem mit Flatterband und Warnschildern abgesperrten Weg am Weitergehen gehindert wurden, mussten wir notgedrungen eine andere Richtung einschlagen. Der Nebel steigt langsam aus dem Boden, dämpft unsere Schritte und verkürzt die Sicht auf wenige Meter. Auch der mit schweren Wolken verhangene Vollmond hat keine Chance, diesem Umstand Abhilfe zu schaffen.
Das alles wäre gerade mal halb so beängstigend, wäre Birgit aus der Buchhaltung nicht krank geworden, denn sie kennt diese Gegend wie ihre Westentasche. Ich selbst vermeide es seit diesem einen Tag meiner Kindheit, zu tief in den Wald vorzudringen. Damals war ich vom Wege abgekommen und es hatte mehrere Stunden gedauert, bis sie mich weinend und verängstigt gefunden hatten, nachdem die Nacht bereits über mich hereingebrochen war. Was mich damals so in Angst und Schrecken versetzt hatte, war nicht der Wald selbst gewesen und auch nicht die Dunkelheit als solche. Es waren die Geschichten über die uralte Hexe, die in der windschiefen Hütte am Bach angeblich auf kleine Kinder lauern sollte, die sie zum Fressen gernhatte. Sie sollte sich nur bei Vollmond zeigen und auch damals hatte dessen bleiches Angesicht den Himmel geziert und die Welt in einen trüben Schein getaucht. Ich erinnere mich nur noch bruchstückhaft an die damalige Nacht, doch der Klang des unheimlichen Kicherns, das sich mir langsam genähert hatte, begegnet mir noch heute in meinen Träumen. Außer diesen geradezu unmenschlichen Lauten und den undefinierbaren Schatten war damals nicht wirklich etwas passiert, doch es hatte gereicht, um mich nachhaltig zu verstören. Und wenn mich nicht alles täuscht, kommen wir genau diesem Teil des Waldes von damals gerade verdächtig nahe.
Die kleine Gruppe vor mir ist in eine hitzige Debatte vertieft, es sind fünf Personen mit fünf Fackeln. Somit ist hier alles in Ordnung. Mein Zwang, alles und jeden zu zählen, begleitet mich schon mein Leben lang. Neben mir zwei Fackeln, in meiner Hand die dritte der kleinen mittleren Gruppe, insgesamt sind das schon acht. Hinter uns nur noch zwei weitere. Bernd und Holger ziehen es vor, jeweils allein und mit einigen Metern Abstand zu uns und zueinander schweigend hinterher zu laufen.
Zehn Personen sind wir heute. Vorne fünf, mit mir drei in der Mitte und hinter mir eine. Nur eine? Das ist nicht in Ordnung! Ich bleibe stehen und sage zu meinen Begleitern: „Geht schon mal vor.“ Ich lasse mich zurückfallen und frage Bernd, ob Holger nicht mehr hinter ihm sei. Er dreht sich erstaunt um und murmelt nur: „Vielleicht muss er mal.“ Dann setzt er sich direkt wieder gemächlichen Schrittes in Bewegung. Ich beeile mich, um an ihm vorbeizukommen und die anderen einzuholen. Ich sehe den Schein mehrerer Fackeln irgendwo weit voraus im diffusen Nebel auf und ab hüpfen.
Der Boden unter meinen Füßen wird plötzlich immer holpriger und schlammiger, das Stimmengewirr und der Schein der Gruppe vor mir verlieren sich langsam, der Abstand scheint zuzunehmen. Es wird mir bewusst, dass ich mich sogar in eine ganz andere Richtung von ihnen entferne. Ich bin definitiv nicht mehr auf dem richtigen Weg. Erschrocken bleibe ich stehen und lausche. Zu hören ist nichts mehr außer meinem Atem. Doch, jetzt nähern sich Bernds schlurfende Schritte hinter mir und ich sehe auch seine Fackel im Nebel auftauchen, als ich einen Blick nach hinten wage. Je näher die Schritte kommen, desto merkwürdiger hören sie sich jedoch an. Zu schlurfend und gleichzeitig zu leicht und zu eilig, als dass sie von Bernd stammen können. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, etwas zu erkennen. Die Umrisse der Person, die langsam sichtbar werden, sind klein und gedrungen. Ich drehe mich hektisch wieder um und beginne zu laufen. Da lichtet sich der Nebel für einen Moment und als ich eine kleine Wiese betrete schieben sich die Wolken zur Seite und der Vollmond taucht die schiefe Hütte vor mir in sein fahles Licht. Hinter mir höre ich die krächzende Stimme einer alten Frau kichernd rufen: „Da bist du ja wieder!“
Das wirklich spannende ist ja: Diese Fackelwanderung hat vor wenigen Tagen wirklich stattgefunden. Und dabei sind mir einige schöne Ideen gekommen. Eine davon wurde zu dieser sehr kurzen Kurzgeschichte. In Wirklichkeit sind wir aber alle heil im Restaurant angekommen. Puh, Glück gehabt!