ALTE GESCHICHTEN Kapitel 4
Der schwarze Spiegel
Um dieses Kapitel zu verstehen, sollte man sich unbedingt die vorangegangenen Teile meines Fortsetzungsromans "Alte Geschichten" zu Gemüte führen. Alle Teile sind unter diesem Link zu finden.
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Aaron staunte nicht schlecht, als sich der große, mit Porzellan überhäufte Tisch inmitten der Ausstellungsfläche wie von selbst beinahe geräuschlos zur Seite schob und sich die darunter liegende Bodenfläche langsam und majestätisch absenkte und dann in der Dunkelheit verschwand. Sie gab einen quadratischen Abgrund mit etwa anderthalb Metern Kantenlänge frei, aus dem ein muffiger Geruch zusammen mit abgestandener Luft nach oben drang. In die zunächst undurchdringliche Finsternis schob sich daraufhin etwas von unten her nach oben, das sich bald als stabile hölzerne Treppe entpuppte, die steil hinab in die Dunkelheit führte. „Hydraulik. Ein technisches Meisterwerk. Kein Strom notwendig, nur Wasserdruck, Seilzug und Gegengewichte – ich bin jedes Mal aufs Neue begeistert“, referierte John Aubrey feierlich. „Oh, aber wir haben natürlich elektrisches Licht unten. Ihr müsst an der Schnur gleich neben der Treppe auf der linken Seite ziehen. Wollt ihr mal probieren?“
Aaron, der ein weiteres Mal nur staunend und ungläubig den Kopf schütteln konnte, hatte eben auf die Anweisung John Aubreys hin den silbernen Kerzenleuchter auf dem großen Esstisch einmal um die eigene Achse gedreht und damit einen geheimen Mechanismus in Gang gesetzt, der ein ganz neues Licht auf den Antikhof Pfundeisen warf: Es existierte ein Untergeschoss. Ein Untergeschoss, das er bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Oder besser: Ein Untergeschoss, das außer Anton Pfundeisen und John Aubrey höchstwahrscheinlich noch keine andere Menschenseele, ob tot oder lebendig, je zu Gesicht bekommen hatte. Wobei Aaron bei den toten Seelen mittlerweile nicht mehr ganz so sicher war und grundsätzlich alles für möglich hielt.
Er betrat vorsichtig die hölzerne Treppe und stieg die ersten Stufen hinunter, bis er auf der linken Seite mit der Hand durch die Luft tasten und nach besagter Schnur suchen konnte. Er fand sie recht intuitiv und zog sie mit angehaltenem Atem herunter. Es klickte, doch der große Aha-Moment blieb zunächst aus, denn außer den nun in schwaches Licht getauchten Treppenstufen, die sich unendlich weit nach unten zu erstrecken schienen, sah er nicht viel mehr.
Aaron blickte unsicher zu John Aubrey hinauf. „Kann ich da einfach runter gehen?“ John Aubrey nickte eifrig und meinte: „Das solltet ihr sogar tun, denn es gehört zu den Geheimnissen des Antikhofs!“
Mit mulmigem Gefühl stieg Aaron in eine weitere unbekannte Welt hinab. Mit einem verstohlenen Blick über seine Schulter überzeugte er sich, dass John ihm folgte. Und das beruhigte ihn sehr. Über diese Erkenntnis musste Aaron gleichzeitig schmunzeln, bedeutete es doch, dass ihm die Anwesenheit eines Geistes die Furcht nahm vor… Ja, vor was eigentlich? Vor anderen, vielleicht schlimmeren Geistern? Wieder einmal hatte Aaron das Gefühl, dass all das, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, seinen Verstand bei weitem überforderte und es noch eine ganze Weile dauern würde, bis er all das wirklich begriffen hätte.
Als Aaron am Fuße der Treppe ankam, lag vor ihm ein, vorsichtig ausgedrückt, recht stattlicher Kellerraum. Realistisch betrachtet konnte dieser sicherlich die Ausmaße eines amtlich zugelassenen Turnier-Tanz-Saales vorweisen und war ebenfalls vollgestellt mit Möbelstücken, Vitrinen und Regalen. Letztere reichten stellenweise bis knapp unter die Decke – und das wollte schon etwas heißen, denn auch die Decke war hier erstaunlich hoch. Ähnlich der offiziellen Ausstellungsfläche ein Stockwerk höher hatte man die Dinge hier so arrangiert, dass man auf engen Gassen in einer Art Labyrinth durch sie hindurch flanieren konnte. Im Gegensatz zum Erdgeschoss war hier jedoch vieles in beschrifteten und mit Schnüren verschlossenen Pappkisten verstaut und etliche Möbel waren mit großen Tüchern verhängt, was der ohnehin bereits unheimlichen Atmosphäre zusätzlich gehörig in die Karten spielte. Diejenigen Stücke, die nicht unter einem Laken versteckt waren oder in Kartons geschützt lagerten, trugen eine nicht zu übersehende Staubschicht auf ihrer Oberfläche zur Schau.
„Wow!“ war das Einzige, was Aaron zunächst über die Lippen brachte. „Ja, hier hat sich ein bisschen was angesammelt in den letzten Jahren“, erwiderte John und sprach damit die offizielle Untertreibung des Jahrhunderts aus. „Aber was ist das alles? Und warum ist es hier unten versteckt?“ fragte Aaron verwirrt. John Aubrey tat sich offenbar schwer mit einer einfachen Antwort, denn er druckste ein wenig herum. „Nun, also, diese Gegenstände hier unten eignen sich nicht unbedingt für den Verkauf im freien Handel, denn es sind zum Teil, nun ja, man kann nie wissen, was es so mit ihnen auf sich hat… Sie könnten – gefährlich sein!“ Aaron blieb stehen. „Gefährlich? Meinst du etwa, sie sind verflucht, verhext und von Dämonen besessen?“ John Aubrey nickte erfreut: „Ja, genau! Ihr lernt schnell, muss ich sagen!“ „Du machst Witze, oder? Ich hoffe, du machst Witze…“ Aaron fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare.
John zögerte erneut, bevor er antwortete: „Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Jedes Stück hier unten trägt sein eigenes Geheimnis in sich. Da steht zum Beispiel der Schrank, dessen Tür sich nicht öffnen lässt, weil sie wahrscheinlich mit irgendeiner Art Magie verschlossen wurde. Und da hinten das Klavier, auf dem ihr früher immer in der Nacht gespielt habt, wenn ihr nicht schlafen konntet. Euer Großvater hat es schließlich nach hier unten verbannt, weil er etwas Dunkles von ihm ausgehen spürte, wie er meinte. In den Regalen lagern technische Instrumente, deren Zwecke uns verborgen blieben oder Schmuckstücke aus bislang unbekanntem Material. Die Welt ist voller Geheimnisse und viele davon haben ihren Weg hierher in den Antikhof Pfundeisen gefunden. Und wir haben all die Jahre nach Antworten gesucht. Antworten auf Fragen, die wir uns selbst gestellt haben oder die an uns herangetragen wurden. Einige dieser Antworten haben wir bereits gefunden im Laufe der Zeit, doch die meisten Fragen blieben für uns auch weiterhin ein großes Mysterium.“
Sie waren bei diesen Worten gemeinsam bedächtigen Schrittes durch die Flure gewandert. Nun hielt John Aubrey an und deutete in einen dunklen Gang zu seiner Rechten: „Und da hinten, unter dem Tuch. Ihr könnt die ovale Form erahnen. Da steht… Ihr ahnt es sicher… Doch seht am besten selbst!“ Aaron blieb stehen und betrachtete andächtig den merkwürdigen Aufbau, der sich am Ende einer Art Sackgasse befand: Da stand ein mindestens zwei Meter hohes, schulterbreites Etwas, das komplett verhüllt war mit einem grauen, eigenartig schimmernden Laken. Jemand hatte auf dem Boden drumherum eine Linie aus feinem, weißem Pulver gestreut, die einen beinahe perfekten Kreis mit etwa zwei Metern Durchmesser bildete und in dessen Zentrum sich das verhüllte Objekt befand. Einen Meter außerhalb dieses Kreises stand ein schwerer, abgewetzter Cordsessel, der offensichtlich dazu gedacht war, darin Platz zu nehmen und sich das Gebilde in aller Ruhe aus nächster Nähe anzusehen. Neben dem Sessel stand ein hüfthoher Kerzenständer, wahrscheinlich aus schwerem Eisen gefertigt, mit einer bereits halb heruntergebrannten Altarkerze. Der Ständer und auch der Boden in unmittelbarer Nähe waren stellenweise zentimeterdick bedeckt mit dem heruntergetropften Wachs zahlreicher Kerzen, die in den letzten Jahren hier gebrannt zu haben schienen.
„Das Tuch ist von hauchzarten Eisenfäden durchzogen, um Dämonen abzuwehren, eine Spezialanfertigung. Der Salzkreis soll außerdem Schutz vor allem möglichen bieten“, erläuterte John. „In diesem Sessel saß euer Großvater häufig beim Licht einer einzelnen Kerze und starrte in den schwarzen Spiegel. Doch mehr als einige Schatten hier und da hatte er nie entdecken können. Auch jeglicher Versuch, die Spiegelfläche zu durchdringen, ganz gleich ob mit Teilen des eigenen Körpers oder mit Gegenständen jeglichen Materials, scheiterte stets kläglich. Auch ich als feinstoffliche Wesenheit scheine nicht die Macht zu besitzen, hindurch zu treten. Der Spiegel ist uns ein großes Rätsel. Vielleicht birgt er ja auch gar kein Geheimnis? Vielleicht ist es einfach nur ein Spiegel aus Obsidian und weiter nichts? Doch dann frägt man sich natürlich, warum sich jemand die Mühe hätte machen sollen, so etwas Kostbares und Aufwändiges herzustellen.“
Er gönnte sich eine seiner Spannungspausen. „Aber dann sind da ja auch noch die Verzierungen am Rahmen des Spiegels. Sie geben recht klare Hinweise darauf, dass hier jemand zumindest versucht hat, etwas Magisches zu erschaffen, wahrscheinlich etwas Schwarzmagisches… Der Rahmen ist nämlich übersät mit Runen und anderen magischen Zeichen der verschiedensten Zeitalter und Kulturkreise. Wir konnten noch bei weitem nicht alle entziffern. Doch die wenigen, bei denen es uns gelang, sprechen eine eindeutige und zugleich unheimliche Sprache.“
Aaron war langsam bis zum Rand des Salzkreises auf den Spiegel zugegangen. Nun zögerte er, drehte sich mit fragendem Blick zu John herum. Dieser machte eine auffordernde Handbewegung: „Nur zu! Ihr könnt in den Kreis treten und das Laken entfernen. Versucht nur, den Salzkreis nicht zu zerstören. Sicher ist sicher!“
Aaron trat mit etwas mulmigem Gefühl über die Linie und stellte sich vor den verhüllten Spiegel. Er löste die Kordel, die das graue Laken fixierte. Dann griff er mit der rechten Hand beherzt in den sich erstaunlich kalt anfühlenden Stoff und zog vorsichtig daran. Das Tuch begann sofort, sich in einer einzigen, anmutigen und weichen Bewegung vom Spiegel zu lösen und elegant zu Boden zu segeln. Aaron starrte zunächst ehrfürchtig in sein eigenes, blasses Gesicht, das etwas stumpf vor ihm in der schwarzen Fläche reflektierte. Er trat einen Schritt zurück und ließ seinen Blick über den gesamten Spiegel schweifen. Beeindruckend sah er aus, der große, massive Rahmen mit seinen chaotisch anmutenden und dennoch scheinbar einer geheimen Ordnung folgenden Verzierungen aus teilweise vertraut und teilweise völlig fremd wirkenden Symbolen. Von der ehemaligen Vergoldung waren nur noch wenige Spuren vorhanden, die sich wie funkelnde Sterne unordentlich über den Rahmen verteilten. Und die Spiegelfläche selbst wirkte schwer und geheimnisvoll in ihrer völligen Schwärze, die dennoch den Raum hinter Aaron detailgetreu widerzuspiegeln vermochte. Nur hier und da meinte Aaron, im Spiegelbild einen flüchtigen Nebelschleier vorbeiziehen zu sehen, doch das konnte natürlich auch Einbildung sein. Etwas anderes war dagegen garantiert keine Einbildung, dafür aber durchaus interessant.
„John, ich kann dich im Spiegel nicht sehen, dabei stehst du genau hinter mir, ich nehme dich im Augenwinkel wahr!“ Aaron drehte seinen Kopf und sah John Aubrey klar und deutlich neben dem Sessel stehen. „Eine interessante Beobachtung, habe ich recht?“ freute sich John Aubrey. „Das ist eines der eher einfach zu entdeckenden Geheimnisse der wandelnden Seelen. Man kann uns nur mit bloßem Auge und von Angesicht zu Angesicht erblicken, wenn überhaupt. Nur wenige Menschen können das ohne Hilfsmittel bewerkstelligen, sie haben die Gabe, über die Grenzen der Dimensionen hinweg zu blicken. Der Spiegel zeigt jedoch nur das, was sich an der Oberfläche der sogenannten Realität befindet und sich den Naturgesetzen dieser Welt beugen muss. Ich befinde mich wie ihr wisst in einer Art Zwischenwelt, nicht wirklich hier und auch nicht wirklich dort. Das kann der Spiegel nicht zeigen. Physikalisch betrachtet hat es wohl damit zu tun, dass das Licht sich nicht an mir bricht, sondern glatt durch mich hindurch geht!“ Er strahlte angesichts dieser Tatsache.
„Und Fotos?“ fragte Aaron mit gerunzelter Stirn. „Es gibt doch so einige Fotos von angeblichen Geistern…“ John schüttelte energisch den Kopf und brummte: „Alles Fälschungen oder zufällige Lichtspiegelungen. Was die Menschen überhaupt immer mit ihren Fotos haben, erschließt sich mir nicht ganz. Erinnerungen sollte man im Kopf und nicht in einem Album verwahren. Es sei denn, es handelt sich um ein kunstvolles Gemälde oder eine Zeichnung von Meisterhand. Aber möglicherweise bin ich da ein wenig altmodisch.“
Aaron lächelte in sich hinein. Wenn er sich nicht irrte, dann rührte Johns vehemente Ablehnung der Fotografie daher, dass sie erst nach seinem Tod erfunden wurde und er somit nie die Chance gehabt hatte, in seiner ganzen Schönheit abgelichtet zu werden. Das Thema Video würde er also am besten erstmal gar nicht ansprechen. Außerdem stand Aaron der Sinn nach einer Runde Tageslicht. Er drapierte das Laken wieder einigermaßen ordentlich über dem Spiegel und befestigte es hektisch mit der Kordel. Dann trat er mit einem großen, energischen Schritt aus dem Salzkreis heraus. Er atmete erleichtert durch und bildete sich ein, außerhalb der „Damönenabwehrzone“ würde eine ganz andere Temperatur herrschen. Das war schon einigermaßen verrückt.
Als sie die Treppe hinaufstiegen blitzte in Aarons Kopf eine plötzliche Erkenntnis auf und er brach das Schweigen. „John, ich konnte nie Klavier spielen und habe es auch nie getan!“ John Aubrey runzelte zunächst die Stirn, blieb dann jedoch abrupt stehen. „Oh“, meinte er dann nachdenklich. „Wir waren uns so sicher, wegen der Fingerabdrücke im Staub. Sie gehörten eindeutig zu Kinderhänden. Naja.“ Dann setzte er sich wieder in Bewegung und meinte übertrieben fröhlich: „Aber jetzt steht es ja unten im Keller, nicht wahr?“ Aaron schüttelte den Kopf, erwiderte jedoch nichts. Hier folgte anscheinend ein Rätsel auf das andere, da musste man sich wohl oder übel daran gewöhnen.
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„Thea! Schön, dass du da bist!“ Es war Samstag. Am Abend zuvor hatte Aaron Thea eine Nachricht geschickt, in der er kurz und knapp um ihre Hilfe gebeten und sie eingeladen hatte, einfach irgendwann vorbei zu kommen. Es war gerade mal Mittag geworden und sie stand bereits gut gelaunt vor der Tür. Aaron musste lächeln. Ja, mit Theas Hilfe und etwas Glück könnte alles gut werden.
„Ok, lass mich zusammenfassen“, meinte Thea mit gerunzelter Stirn. „Wir müssen also einen Antiquitätenhandel, der einst ein florierendes Geschäft gewesen war, aber jetzt von der Insolvenz bedroht ist, zu neuem Leben erwecken. Dabei haben wir keinerlei Ahnung von Antiquitäten…“ Aaron setze zu einer Bemerkung an, doch Thea winkte ab. „Gut, ich habe keine Ahnung davon und du hast ein paar Fachbegriffe von deinem Großvater aufgeschnappt, die dich vielleicht durch einen oberflächlichen Smalltalk retten könnten, aber keinesfalls durch ein Verkaufsgespräch. Ja?“ Aaron nickte zufrieden: „Exakt so!“ Er reckte den Daumen nach oben und grinste breit. Thea musste schmunzeln. „Klar, dass du mich da um Hilfe bittest. Ich meine, kaum Ahnung, dafür aber ziemlich Zeitdruck und keinerlei Ideen – das ist genau wie damals, oder?“
Sie saßen sich im Garten an der hölzernen Garnitur gegenüber, hatten sich starken Kaffee und Kekse bereitgestellt und Block und Stift gezückt. Bisher herrschte auf dem Notizblock allerdings gähnende Leere. Aaron schielte zur recht blassen Gestalt John Aubreys hinüber, der sich in einer schattigen Ecke platziert hatte und mit zweifelndem Blick die Szene verfolgte.
„Guuuuut!“ sagte Thea gedehnt. „Gut, dass ich mir schon seit Donnerstagabend Gedanken gemacht habe, denn es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis wir hier zusammensitzen.“ Sie zwinkerte ihm zu und zog ihren eigenen Notizblock aus der Tasche, schlug das Deckblatt zurück und präsentierte eine in ordentlicher Handschrift voll beschriebene DINA4 Seite. Sie tat so, als würde sie eine bestimmte Stelle suchen, nicht finden und blätterte um. Und blätterte noch einmal um. Fünf Seiten hatte sie vollgeschrieben und Aaron musste wieder einmal kopfschüttelnd lachen. Genau das war schon immer die Magie zwischen ihnen gewesen.
„Also, ich habe den Antikhof gegoogelt. Außer einem uralten Branchenbucheintrag und einigen sehr abgefahrenen Beiträgen in einem Forum zu paranormalen Begebenheiten findet sich nichts dazu im Internet. Das müssen wir natürlich als allererstes ändern. Und wir müssen zweigleisig fahren. Wege finden, Menschen aus der Entfernung virtuell anzulocken, also aus dem gesamten deutschsprachigen, vielleicht sogar europäischen Raum, das geht natürlich nur online. Und wir müssen die Menschen der erweiterten Region persönlich herlocken, die Einheimischen und die Touristen. Ersteres ist deutlich schwerer zu bewerkstelligen als letzteres. Für Ersteres müssen wir eine Homepage machen, also Domain reservieren, Inhalte erstellen, Suchmaschinenoptimierung, Social Media Profile natürlich, Verzeichniseinträge und so weiter. Standard. Für zweiteres müssen wir auf Presse, Flyer, Mundpropaganda und natürlich reichlich spannende Aktionen setzen. Vielleicht kann man in Richtung Kleinkunstabende denken – und sonntags gibt es selbstverständlich Kaffee und Kuchen. Ein Marktstand für die Kleinigkeiten wäre sicher auch machbar. Vielleicht sogar Mittelaltermarkt. Müsste man sehen, ob sich der Aufwand lohnt. Müssen wir aber jetzt noch nicht wissen.“ Sie holte Luft. „Wir brauchen die einzelnen, großen Umsätze, aber auch die kleinen regelmäßigen. Ich denke über ein Abomodell in drei Preisstufen nach, monatlicher Versand eines Überraschungsartikels aus einer gewünschten Kategorie. Damit kannst du die Ladenhüter loswerden und monatlich mit festen Umsätzen rechnen. Du solltest außerdem regelmäßig auf Social Media berichten, wie du hier versuchst, in große Fußstapfen zu treten – aber mit deinen eigenen Schuhen. Am Logo tüftle ich noch. Aber das bekomme ich auch bald hin. Was meinst du?“
Aaron hatte es die Sprache verschlagen. Und gleichzeitig war ihm ein verwirrender Gedanke gekommen. Es musste nicht nur zwei-, sondern sogar dreigleisig gefahren werden. Die Menschen, die sich mit ihren paranormalen Problemen an Anton Pfundeisen gewandt hatten – sie mussten irgendwo auf ihn aufmerksam geworden sein. Offensichtlich war im Internet in entsprechenden Foren schon einmal etwas dazu geschrieben worden, aber wahrscheinlich ginge das auch durch Inserate in einschlägigen Zeitschriften. Vielleicht gab es auch eine Stammkundschaft, die man reaktivieren konnte, auf welchem Wege auch immer. Er machte sich eine gedankliche Notiz, diesen Teil später mal mit John zu besprechen. Aus dieser Nummer wollte er Thea nämlich zunächst einmal heraushalten.
Thea hatte ihn angesehen, während er diesem Gedanken nachgehangen war. Er bemerkte erst jetzt, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte. „Hm?“ machte er und riss fragend die Augen auf. Thea seufzte und griff nach seiner Hand. „Sag mal, bist du dir sicher, dass es das ist, was du möchtest?“ Aaron atmete tief durch, legte seine freie Hand auf ihre und umschloss sie, drückte einmal sanft und zog dann seine Hände zurück. Er erhob sich, lief langsam auf die andere Seite des Tisches und setzte sich neben Thea. Sie blickten nun beide in Richtung Scheune. „Schau es dir doch an. Das alles hat mein Großvater aufgebaut. Und zu seinen Glanzzeiten war es für viele Menschen eine feste Größe. Und für manche sogar mehr als das, eine Art Zuhause.“ Er blickte bei diesen Worten unauffällig zu John hinüber, der dankbar lächelte und nickte. „Die Alternative wäre der Verkauf. Vielleicht würde ich gutes Geld für all das bekommen, wäre ein gemachter Mann, aber die Geschichte des Antikhofs würde damit möglicherweise enden. Und ich habe das Gefühl, dass diese Geschichte noch nicht enden soll. Dass da noch einige Kapitel auf mich warten, die erzählt werden wollen.“ Thea dachte nach und meinte dann grinsend: „Wenn du das genauso in deinen Stories erzählst und dir dabei vielleicht eine Träne rausdrücken könntest, dann wird das eine ganz, ganz große Sache!“
Am Nachmittag schauten sie sich noch ein wenig genauer im Antikhof um, Thea begutachtete einige der Stücke auf ihre Fotogenität und Social-Media-Tauglichkeit und war immer besonders erfreut, wenn sie mehrere identische oder zumindest gleichartige Gegenstände entdeckte, die dazu noch leicht mit der Post zu verschicken waren. „Ich möchte gar nicht von Skalierbarkeit sprechen, aber immerhin wäre das nur ein Werbe-Aufwand für mehrere Verkäufe. Ein Artikel im Onlineshop, aber große Stückzahl, verstehst du?“
Aaron hatte verstanden. Er hatte verstanden, dass sie es zusammen schaffen könnten, den „normalen“ Antiquitätenhandel irgendwie wieder zum Laufen zu bekommen. Wie lange es dauern würde und wie anstrengend es werden würde – das konnte er nicht einschätzen. Aber immer mehr kam ihm der Handel mit Antiquitäten wie eine Art Tarnidentität vor und er wusste, dass er stets parallel an der zweiten Ebene des Antikhofs würde arbeiten müssen. So wie Batman am Tage Bruce Wayne war und in der Nacht in seine Bathöhle hinabstieg, um all das andere Zeug zu machen, was er so tat. Ehrlicherweise kannte er sich in Sachen Superhelden gar nicht so gut aus.
„Wenn wir Kaffee und Kuchen vielleicht auf den antiken Tellern und mit Silberbesteck servieren und die Gäste die Möglichkeit haben, das Geschirr abzukaufen am Ende? Und dann ist der Kuchen kostenlos? Ist zu abgefahren, oder? Was meinst du?“ Aaron lachte. Er packte Thea an den Schultern und schüttelte sie spielerisch. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber: Fokus, Thea! Fokus! Wir sollten vielleicht eins nach dem anderen machen. Ich würde mich mal morgen an den Laptop setzen und die Sache mit der Homepage ins Rollen bringen. Und du tüftelst das Logo aus. Und dann sehen wir weiter, ja?“ Er grinste. „Und jetzt drehen wir eine Runde mit meinem Van. Ich war noch nicht einmal am See, seit ich hier bin. Mir steht der Sinn nach Pizza mit Seeblick. Ich lad dich ein. Bist du dabei?“
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Man könnte es eine klassische Fehlplanung nennen, dass der Lichtschalter für das Untergeschoss oben an der Treppe angebracht war und es nirgends einen zweiten zu geben schien. Wenn man also vorhatte, sich im Licht einer einzelnen Kerze vor den schwarzen Spiegel zu setzen, so musste man im spärlichen Schein einer Taschenlampe oder – wie in Aarons Falle – im Schein eines Handylichtes durch die verwirrenden Gänge schleichen, während einen die undurchdringliche Finsternis von allen Seiten mit tausend Augen anzustarren schien. Oder etwas, das in dieser Dunkelheit lauerte. Das Knarzen der Deckenbalken, das Ächzen und Knacken der Regale und das Echo des eigenen hektischen Atems lieferten eine Soundkulisse, die jedem Psychoschocker das Wasser reichen konnte. Doch Aaron hatte es geschafft.
An diesem Sonntag hatte er zunächst ausgeschlafen, dann als erstes die Domain www.antikhof-pfundeisen.de gesichert und danach seinerseits ein wenig nach den Stichworten „Pfundeisen, Antiquitäten, Paranormal“ und ähnlichem gegoogelt. Die Foren, über die er dabei gestolpert war, hatte er sich für eine spätere Recherche und für künftige Werbeaktionen als Favoriten gespeichert. Und am Mittag hatte er John gebeten, oben zu bleiben. Er wollte alleine sein und nachdenken. Das gelang ihm von jeher am besten, wenn er ungestört vor sich hinstarren konnte. Und nun starrte er in einen schwarzen Spiegel.
Zunächst fühlte es sich ungewohnt und unheimlich an. Er schaute sich selbst in die Augen, sah sich und den Sessel mit einem dumpfen Grauschleier überzogen im Kerzenlicht, das zuckende Schatten durch die Umgebung warf. Er musste anfangs dem heftigen Drang widerstehen, sich ständig umzudrehen und zu überprüfen, ob er auch wirklich alleine war. Seine Gedanken begannen, abzuschweifen. Er dachte zurück an die Tage an der Algarve und es kam ihm vor, als wären sie eine Ewigkeit her, wie aus einem anderen Leben oder aus dem Leben eines anderen. Dabei war er gerade mal vor gut einer Woche dort aufgebrochen. Er sah die Bilder der Beerdigung, den Notarbesuch und seine Ankunft im Antikhof in der Abendsonne zum wiederholten Male vor seinem inneren Auge. Dann hörte er die Stimme seines Großvaters in seinem Kopf, wie sie sagte: „Mein lieber Aaron. Das Leben schreibt die besten Geschichten!“
Er betrachtete seine Hand, wie sie locker auf der Armlehne des Sessels lag. Fasziniert hob er sie an, streckte die fünf Finger aus und beobachtete, wie die Flamme der Kerze sie in flackerndes Licht tauchte. Seine Hand erinnerte ihn an die Hand seines Großvaters. Wann war das nur geschehen? Wann hatte sich die kleine Hand eines Jungen in die große Hand eines Erwachsenen verwandelt? Wehmütig legte er sie auf die Lehne zurück und wandte den Blick wieder dem Spiegel zu. Und sah in die Augen seines Großvaters. Im Spiegelbild saß nun nicht mehr Aaron in seinem Sessel, sondern Anton Pfundeisen. Aaron lächelte und Anton lächelte zurück. Die beiden Männer sahen sich eine Weile stumm in die Augen und in Aaron breitete sich eine wohltuende Wärme aus. Aaron hörte, wie jemand in der Ferne eine leise, traurige Melodie auf einem verstimmten Klavier spielte. Anton Pfundeisen zwinkerte ihm zu.
In diesem Moment erwachte Aaron. Es dauerte einen Moment, bis er die Veränderung bemerkte. Jemand hatte das Licht im Kellergeschoss eingeschaltet. Die Schritte hörte er erst, als er bereits im Spiegel sehen konnte, wie sich ihm eine Gestalt von hinten näherte.
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Um wen es sich bei dieser Gestalt handelt? Und wie es mit dem Antikhof weitergeht? Das erfährt der geneigte Leser hier: Kapitel 5!