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Alles unter null.

 

„Tiefenheimer in Not.
Alles unter null.
Und alles erstarrt.“

Der seltsame Notruf war in der unterirdischen Kolonie Tiefenheim auf einer brüchigen Funkfrequenz empfangen worden und hatte grob geortet werden können. Nun machte sich ein Suchtrupp aus fünf unerschrockenen Freiwilligen auf den Weg durch den schier undurchdringlichen Nebel an der Erdoberfläche. Sie alle trugen dicke Thermoanzüge, mit modernster Technik ausgestattete Astronautenhelme – und Waffen. Seit der Planet in eine neue Eiszeit gestürzt war und die verbliebene Bevölkerung sich in kleinen Verbänden unter die Erde zurückgezogen hatte, war die Oberfläche aufgrund marodierender Banden und wilder Tiere zu einem lebensfeindlichen Ort geworden. Temperaturen weit unter null Grad Fahrenheit, der allgegenwärtige dichte Nebel und diese merkwürdigen Verschiebungen der Zeitebenen durch die verlangsamte Erdrotation hielten jeden vernunftbegabten Überlebenden davon ab, die trügerische Sicherheit der eigenen Kolonie zu verlassen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Die langsam versiegende Restwärme des erkaltenden Erdkerns versorgte die Kolonien noch mit ausreichend Energie – für den Moment zumindest.

Der Suchtrupp stand vor dem mehrstöckigen Gebäudekomplex mit dem Flachdach, der wie ein stummer Zeuge der Vergangenheit an Zeiten erinnerte, in denen hier Menschen ein- und ausgegangen waren. Welchem Zweck die Gebäude ursprünglich gedient hatten, war jedoch nicht mehr überliefert. Die klirrende Kälte und die dicke Polsterung der Thermokleidung verlangsamten alle Bewegungen der Sucher. Die spiegelnden Visiere der Helme waren längst von Eiskristallen überzogen und die Orientierung gelang nur aufgrund der eingebauten Nebelsichtgeräte. Der Nebel schluckte alle natürlichen Geräusche um sie herum, man verständigte sich ausschließlich mit Handzeichen oder mit knappen Worten über die in den Helmen eingebaute Funkstrecke.

„Und der Hilferuf kam wirklich von hier?“

„Wir sind uns ganz sicher.“

„Und es waren unsere Leute?“

„Sie benutzten unsere Frequenz und unsere Codeworte. Alles unter null. Akute Lebensgefahr.“

„Wir werden hineingehen müssen.“

„Verstanden. Suchen wir einen Eingang.“

Sie fanden eine in ihrem Rahmen festgefrorene Glastür. Das Glas hatte der Witterung bisher erstaunlicherweise standgehalten, fiel jedoch durch einen gezielten Schlag mit dem Gewehrkolben beinahe geräuschlos in sich zusammen. Der Suchtrupp betrat das Gebäude und stand in einem sich nach beiden Seiten in düsterem Zwielicht verlierenden Korridor.

„Aufteilen?“

„Zusammenbleiben!“

Mit langsamen Schritten setzte sich der Trupp nahezu lautlos in Bewegung. Die Wände waren überzogen von einer dünnen Schicht aus glitzernden Eiskristallen. Schweigend arbeiteten sich die Sucher den Korridor entlang bis zur ersten Biegung. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen wagte sich der erste um die Ecke, das Gewehr im Anschlag. Es erwartete ihn ein weiterer langer und menschenleerer Korridor, der leicht abschüssig in ein Kellergeschoss führte. Je tiefer sie kamen, desto düsterer und kälter wurde es. Ihre Suche nach einer möglichen Quelle des empfangenen Hilferufs blieb weiterhin erfolglos. Als sie sich in einem dämmrigen Korridor im unteren Stockwerk mit vielen Türen zu beiden Seiten befanden, nahmen sie plötzlich eine Bewegung in einiger Entfernung vor ihnen wahr. Sofort richteten sich alle Gewehrläufe in die Richtung, aus der augenscheinlich etwas aus der Dunkelheit auf sie zu kam. Noch war nichts zu erkennen außer dem diffusen Schatten, den dieses etwas an die Wände zu werfen schien.

„Lampen an bei Drei. Eins. Zwei. Drei.“

Der starke Strahl von zwei mitgebrachten Handscheinwerfern bohrte sich schlagartig durch die Düsternis und ließ die Kristalle an den Wänden millionenfach funkeln. Das Licht offenbarte eine Gestalt, die dem Suchtrupp zielstrebig entgegen schritt. Es war eine Frau mit einer Art Mappe in der einen und einer Tasse in der anderen Hand. Sie trug einen bunten Rock und eine weiße Bluse – sonst nichts. Keinerlei Schutzkleidung setzte sich der erbarmungslosen Kälte entgegen. Doch das schien die Frau nicht zu kümmern. Ebenso wenig wie das Flutlicht, das immer noch auf sie gerichtet war. Und das durch sie hindurch schien. Einer der Sucher zielte nun auffallend nervös mit seiner Waffe direkt auf die Frau, doch eine Hand legte sich auf den Gewehrlauf und drückte ihn langsam nach unten.

„Waffe runter. Sie ist nur ein Echo.“

„Eine Zeit-Anomalie?“

„Ich fürchte ja. Eine Überlagerung.“

Sie standen schweigend da und ließen das Echo der Vergangenheit auf sich zu kommen. Ohne ihnen auch nur den Hauch einer Beachtung zu schenken lief die Erscheinung an ihnen vorbei und weiter den Korridor entlang, wo sie mit jedem ihrer Schritte etwas mehr verblasste, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

„Zurück oder weiter?“

„Zurück nach oben.“

Der Trupp machte kehrt und lief Meter um Meter in die entgegengesetzte Richtung, um die Zeit-Anomalie so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Vier von ihnen bemerkten fast zeitgleich, dass der fünfte Sucher zurückgeblieben war. Sie blickten hinter sich und sahen, wie er mitten in der Bewegung erstarrt im Korridor stand wie das Exponat einer unheimlichen Ausstellung in einem skurrilen Museum.

„Schneller.“

Das knappe Kommando ließ keinen Widerspruch zu. Sie setzten ihren Weg fort und mit jedem Schritt schien ihnen die Bewegung schwerer zu fallen, schienen ihre Glieder nur noch mühsam ihrem Willen zu gehorchen.

 „Setzen Sie einen Hilferuf ab. Tiefenheimer in Not. Alles unter null. Und alles erstarrt.“

Das ist zur Abwechslung mal wieder eine wirklich kurze Geschichte. Gefühlt sogar so etwas wie eine einzelne Szene aus etwas größerem, wobei das größere nicht näher ausformuliert ist, sondern in den Köpfen der Leser*innen entstehen darf. Die Grundidee dazu kam meinem Arbeitskollegen El Lobo, als unsere Firmengebäude tagelang in diesem dichten Nebel lagen. In seiner Grundidee stieß der Suchtrupp jedoch auf viele gefrorene Leichen - er ist halt Psychologe. Ich habe die Leichen entfernt und dafür ein bisschen Zeitreiseparadoxon eingebaut; das macht den Grusel ein bisschen subtiler und alptraumhafter. Danke für die Inspiration, El Lobo! Wenn du mal deine eigene Version schreiben möchtest, würde diese hier bestimmt einen Platz finden...
 

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