Alle Texte,  Geschichten

Schwarze Libelle

Wenn Sie die enge Steintreppe unter der flackernden Neonreklame hinuntersteigen, auf die hölzerne Pforte zugehen und Ihnen die abgestandene Wärme schon entgegen strömt, wenn Sie am Eingang dann an Lowell, dem blassen Türsteher mit den stechenden schwarzen Augen vorbeigehen, in den kleinen runden Saal eintreten und den Duft von Zigaretten und Schweiß inhalieren, dann suchen Sie sich besser einen Platz in der Nähe der Tür – denn viele gingen schon hinein, doch nicht alle kamen wieder heraus. „Willkommen in der Schwarzen Libelle“…

Ich hatte von diesem merkwürdigen Nachtclub namens „Schwarze Libelle“ gehört, doch geglaubt hatte ich die Geschichten, die sich um dieses kleine Hinterhof-Etablissement rankten, noch nie. Bis zu diesem denkwürdigen Tag, an dem mich eine verzweifelte Dame namens Gesina – ihren Nachnamen wollte sie nicht verraten – damit beauftragte, nach ihrem verschwundenen Gatten zu suchen. Selbiger schlich sich seit einigen Wochen immer öfter im Schutze der Dunkelheit aus dem Hause und machte Halt in besagtem Nachtclub – selbstverständlich nicht unbemerkt von seiner Ehefrau, die ihm eines Abends gefolgt war. In dieser Nacht wartete die Dame jedoch vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes. Viele Tage.

„Warum haben Sie nicht dort gesucht?“ Meine Frage traf auf Verständnislosigkeit.

„Werter Herr, ich habe Angst – wer weiß, welch seltsame Gestalten sich dort tummeln… Kennen Sie nicht die Geschichten, die sich um die Schwarze Libelle ranken?“

Ich kannte sie nicht wirklich. Nur vage Gerüchte. Ich habe aber auch nur wenig von dem Gestammel behalten, das die Dame mir entgegen hauchte. Etwas in ihren Augen faszinierte mich. War es die Farbe? Nein, es war der Glanz…

Ich gab mir einen Ruck, um wenigstens einiges von dem zu verstehen, was Gesina mir vergeblich zu erklären versuchte:

Leichte Damen, die die ach so ehrbaren Männer der Stadt verderben, in ihren Bann ziehen, Männer, die danach nicht mehr dieselben sind.

Warum sie nicht zur Polizei gegangen war? Wer weiß, in welche Geschäfte ihr Mann verwickelt wurde. Gegen seinen Willen selbstverständlich und nur unter Androhung von Gewalt oder Anwendung unheilvoller Hypnosetechniken.

„Ein Detektiv wie Sie, dessen Ruf weit über die städtischen Grenzen hinweg bekannt ist, erscheint mir geeigneter. Sie verkehren doch eher in diesen finsteren Kreisen. Finden Sie ihn…“

Nun, über die Grenzen der Stadt hinaus war ich wohl nicht bekannt – ich bezweifle sogar, dass überhaupt irgendjemand in dieser Stadt meinen Namen kannte, geschweige denn mein Gesicht.  Doch für einen Schnüffler war dies sicherlich kein Nachteil. Und eine gewisse Erfolgsquote konnte man mir nicht absprechen. Vielleicht war es so etwas wie ein siebter Sinn – doch nur selten musste ich Fälle als „ungelöst“ zu den Akten legen.

Die fürstliche Anzahlung der Dame namens Gesina überzeugte mich, dass es an der Zeit war, einmal wieder mein zugegebenermaßen tristes Büro zu verlassen und vor Ort zu ermitteln.

Also ging ich am folgenden Abend, einem Samstag, die kleine Seitenstraße hinter dem Blumenhändler entlang und suchte nach dem Hinterhof. In der Hand hatte ich die Skizze der Dame. Die flackernde Neonreklame hatte ich schnell gefunden, auch die kleine Treppe, die in unbekannte Gefilde hinab führte – schwach beleuchtet vom matten Licht des Vollmondes, der hoch am Himmel stand.

Doch die Tür war verschlossen. Das Schild mit der Aufschrift „Donnerstag, Freitag und Samstag ab 22:00 Uhr geöffnet“ nahm man wohl nicht allzu ernst. Ich rüttelte am Türgriff. Nichts zu machen. Und eine Ermittlung mit einem Einbruch zu beginnen, erwies sich selten als die beste Methode.

Außerdem fühlte ich mich beobachtet und irgendwo in der Nähe der Mülltonnen musste sich aggressives Getier zusammengerottet haben, denn leises Knurren und Zähnefletschen hießen mich deutlich, für heute den Rückzug anzutreten. Der Gestank nach Fäkalien festigte meinen Entschluss zum Rückzug.

Also warten bis zum nächsten Tag. Heimweg zu Fuß in sternklarer Nacht über vollmondbeschienene Straßen. Na prima.

Am Abend des darauf folgenden Donnerstag erwartete mich ein vollkommen verändertes Bild. Ich beobachtete den Eingang zum Hinterhof aus sicherer Entfernung. Reges Treiben herrschte. Die meisten Besucher waren Herren in langen Mänteln, den Hut tief ins Gesicht gezogen, die alleine und – da ging ich jede Wette ein – ohne Wissen der Ehefrau gekommen waren.

Vereinzelt kamen Personengruppen, meist drei oder vier Männer aller Altersklassen. Die wenigen Damen, die in Begleitung des ein oder anderen Herren kamen, machten auf mich entweder einen sehr „professionellen“ oder aber sehr betrunkenen Eindruck.

Der Gestank war heute erträglicher, die Tiere hatten sich wohl zurückgezogen und den Menschen Platz gemacht, die hier ihren seltsamen Vergnügungen nachgingen. Welche Vergnügungen dies waren, würde ich wohl gleich erfahren.

Ein gemütlicher, runder Raum, in gedämpftes rotes Licht getaucht empfing mich. Größer als ich erwartet hatte. Stühle waren im Halbrund um eine kleine erhöhte Bühne angeordnet, dazu kleine Tische mit flackernden Kerzen und an den Wänden kleine, nummerierte Nischen mit Sitzgruppen und Vorhängen, die man bei Bedarf zuziehen konnte.

Etwa die Hälfte aller Plätze war besetzt. Nicht schlecht für einen Donnerstag. Einige der anwesenden Herren starrten gebannt auf den Vorhang hinter der Bühne, unter dessen Saum man hektische Bewegungen und Schatten erkennen konnte. Die Künstler bereiteten sich vor.

Ich setzte mich in eine der letzten Reihen, ganz in der Nähe der Tür. Erst jetzt bemerkte ich den Herrn schräg neben mir, der gleich neben der Nische mit der Nummer Sechs saß und nervös auf die Bühne starrte. Er hatte seinen Hut nicht abgenommen, Schweißperlen liefen ihm über die Stirn, und auch seine Hände zitterten merklich. Sein Atem ging rasend. Doch er lächelte.

Ein offensichtlich Blinder mit einem Bauchladen kam durch den Saal gestolpert und verkaufte seine Ware – hauptsächlich Zigaretten und Knabbereien. Der Herr im Anzug hinter der Bar grinste hinter seinem breiten Schnauzbart, während er einige alkoholische Getränke mixte, die von einer hochgewachsenen Dame mit auffallend großem Adamsapfel auf einem klebrigen Tablett ausgeliefert wurden.

Der Herr mit dem Hut neben Nische Sechs drückte eine Zigarette nach der anderen im bereits übervollen Aschenbecher aus.

Das Licht ging aus. Bisher hatte niemand Eintrittsgeld verlangt. Ich hatte mir weder Knabbereien noch Getränke gegönnt. Sollte ich in den Genuss einer kostenlosen Varietédarbietung kommen?

Mit mäßigem Applaus begrüßt und verabschiedet wurden ein Jongleur und ein Zauberer. Nach dem Auftritt des Trapezkünstlers schien die Anspannung des Herrn mit dem Hut ins Unerträgliche zu wachsen.

Zwei Trommler betraten die Bühne, die auf riesigen Pauken einen wilden Takt schlugen, ein Feuerspucker ließ riesige Flammen in die Luft steigen, die sich gefährlich nah an der schon schwarzgefärbten Decke in Nichts auflösten und einen weiteren rußigen Rückstand hinterließen. Der Herr mit dem Hut rutschte nervös auf seinem Sitz herum. Er kannte den Ablauf der Show und wartete auf eine bestimmte Nummer. Pause, Ruhe. Einer der Trommler war nach vorne getreten und kündigte mit sonorer Stimme an:

„Meine Damen und Herren, hier kommt für Sie der Höhepunkt des Abends, die einzigartige Schlangenfrau Alena!“

Als Alena die Bühne betrat, ging ein Ruck durch den Herrn mit dem Hut. Auch einige der anderen Herren saßen aufrechter und steifer als zuvor. Sie richteten sich in ihren Stühlen auf und klatschten begeistert Beifall.

Alena war eine Schlangenfrau – in zweifacher Hinsicht: Sie tanzte mit einer großen Würgeschlange um den Hals und verbog sich dabei selbst wie eine Schlange. Nichts, was nicht auch in jedem x-beliebigen Zirkus zu sehen gewesen wäre. Was faszinierte den Herrn mit dem Hut so sehr?

Die Nummer ging zu Ende, das Licht erlosch erneut. Artiger Beifall brandete auf, besonders laut dröhnte es aus der Ecke, in der der Herr mit dem Hut saß. Nur noch vom Schein der Kerzen beleuchtet schritt Alena von der Bühne – die Schlange um den Hals und einen staubigen Zylinderhut in der Hand. Aha. Endlich wollte jemand Geld einsammeln. Ich hatte mir schon „Sorgen“ gemacht, so ganz ohne Spesen auszukommen.

Alena schritt durchs Publikum und bereitwillig gaben die Herren Scheine in nicht unbeträchtlicher Menge in den Hut und ernteten dafür das ein oder andere Lächeln der Schlangenfrau. Als Alena an meinen Tisch kam, begann ich, nervös nach etwas Bargeld zu suchen. Einige Münzen bekam ich zu fassen und ließ sie betont langsam in den Hut prasseln.

„Oh“… Das erste Mal, dass ich die Stimme von Alena hörte. Sie hielt kurz inne, betrachtete mich.

„Oh, du bist zum ersten Mal hier. Das kannst du doch bestimmt noch besser!“ sagte sie und beugte sich zu mir herunter, den Zylinder herausfordernd ausgestreckt.

Im Halbdunkel der flackernden Kerzen konnte ich kaum etwas von ihrem Gesicht erkennen. Nur ihre Augen, die wie von selbst zu leuchten schienen, stachen aus der Dunkelheit hervor und durchbohrten mich fragend, herausfordernd… drohend? Natürlich konnte ich das besser. Ich hatte schließlich eine ordentliche Show geboten bekommen. Wo blieb mein Anstand. Einige kleine Scheine fand ich, gab sie in den Hut und fühlte mich besser.

Alena war weitergegangen. Sie war bei dem Herrn mit dem Hut, der nun gar nicht mehr nervös erschien – ein seliges Grinsen auf dem Gesicht warf er gerade ein ganzes Bündel Geldscheine in den Hut der Schlangenfrau. Verrückt. Alena beugte sich hinab und flüsterte dem Herrn mit dem Hut etwas ins Ohr. Dieser lachte nervös auf, wollte noch etwas sagen, doch die Schlangenfrau war bereits weiter gegangen.

„Du kommst doch wieder“, hatte Alena noch zu mir gesagt. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Die Worte klangen mir noch in den Ohren, als ich bereits auf halbem Wege wieder zu Hause war.

„Natürlich“, hatte ich gesagt, oder besser gestammelt. Etwas hatte meinen Hals ganz trocken gemacht – sicherlich die Luft in diesem Etablissement. Natürlich musste ich wieder kommen. Ich hatte einen Auftrag. Deshalb würde ich schon nächste Nacht wieder kommen.

Die nächste Nacht, das gleiche Programm. Der Herr mit dem Hut war auch wieder da. Er war wohl wieder bei den ersten gewesen. Und wieder schien er vor Nervosität kaum still sitzen zu können.

Auch ich war nervös. Etwas hier machte mich nervös. Etwas stimmte nicht. Etwas ging ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Und hätte ich hier nicht einen Auftrag zu erfüllen, würde mich nichts mehr hier halten. Nichts. Oder doch?

Ich hatte mir dieses Mal ein Glas Sekt gegönnt, das nun halbleer vor mir auf dem Tisch stand. Um ehrlich zu sein war es das dritte Glas Sekt, das nun halbleer vor mir auf dem Tisch stand. Meine Nervosität legte sich etwas.

Das Licht erlosch, die Show begann. Der Jongleur jonglierte, der Zauberer zauberte, der Trapezkünstler turnte, der Feuerspucker spuckte, die Schlangenfrau Alena schlängelte sich. Kurz hatte sie mich angesehen. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr Blick sagte: „Ich wusste, dass du wieder kommen würdest.“

War es ihr Blick oder war es ihre Stimme in meinem Kopf, die ich deutlich hörte? Ich erschrak und wachte aus meiner tranceähnlichen Faszination auf – lieber Himmel. Etwas mehr Schlaf und weniger Alkohol im Allgemeinen würden mir sicherlich guttun.

Die Show war zu Ende. Alena kam zum Sammeln. Ich war vorbereitet, hatte Scheine eingepackt. Warf sie in den Hut. Alena schaute mir in die Augen.

„Na, wie hat es dir heute gefallen?“ fragte sie.

„Gut, ganz gut!“ versuchte ich, zu antworten.

„Oh, du bist verletzt“, sagte Alena mit einem Blick auf meine Hand, die das Sektglas krampfhaft festhielt und wohl etwas zu stark gedrückt hatte. Oder hatte Alena etwa meine Hand stärker und stärker zugedrückt, bis das Glas unter leisem Klicken nachgegeben hatte?

Ein Riss lief quer über die eine Seite des Glases, der Sekt lief heraus und mischte sich mit dem dünnen roten Rinnsal von Blut, das aus einem kleinen Schnitt aus meinem Finger lief. Alena tippte mit dem Finger in die blassrote Lache aus Sekt und Blut und berührte ihre Lippen. Ihre Augenlider schlossen sich, öffneten sich wieder und ihre leuchtenden Augen sahen mich bohrend an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich schaute verlegen zur Seite. Als ich wieder aufsah, war Alena bereits weitergegangen.

Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf – jemand hämmerte an die Tür im Erdgeschoss, der Tür zu meinem Büro. Oh, mein Gott. Verschlafen. Die Dame namens Gesina, die mir den Auftrag mit dem geheimnisvollen Nachtclub gegeben hatte wollte doch vorbeikommen. Für einen Zwischenbericht. Zwischenbericht… Was konnte ich ihr schon erzählen? Ja, sie hatte recht, da stimmte etwas nicht. Verdammt. Aber was?

„Gute Frau, ich kann Ihnen versichern, ich bin an der Sache dran. Ich werde ganz bestimmt heute Abend neue Erkenntnisse erlangen. Ich habe den Laden jetzt zweimal ausbaldowert, heute Nacht werde ich mich mal etwas genauer da drin umsehen – und umhören…“

Den Namen ihres verschwundenen Mannes notierte ich noch: „Raulf“.

Ich war früher da. Auch einige andere Herren waren bereits da, saßen erwartungsvoll in ihren Stühlen. Immer wieder kamen Gäste durch die Eingangstüre. Heute würde es wohl voll werden. Es war Samstag.

Der Herr mit dem Hut saß an seinem Stammplatz. Er roch nach Schweiß – ich konnte seinen Geruch bis zu meinem Tisch wahrnehmen. Schweiß und Zigaretten. Und noch etwas anderes. Etwas Süßes. Keine Ahnung was das war. Ein schlechtes After Shave vielleicht.

Es war an der Zeit, sich umzusehen.

Ich begann damit, das „Personal“ zu befragen. Unauffällig, beiläufig. Mit dem Ergebnis, dass ich nicht schlauer war als zuvor. Die Kellnerin mit dem großen Adamsapfel konnte oder wollte gar nicht sprechen. Der Barkeeper mit dem breiten Grinsen sprach nur wirres Zeug in einer mir unbekannten Sprache, wenn es denn überhaupt eine richtige Sprache war. Der Blinde mit dem Bauchladen machte ein interessiertes und hilfsbereites Gesicht als ich ihn fragte, ob ein Herr namens Raulf hier gewesen war. Er würde die Chefin fragen. Ob er das je getan hat, weiß ich nicht. Wer die Chefin war auch nicht. Doch ich hatte eine Ahnung. Ich hatte dem Blinden meine Visitenkarte zugesteckt mit der Bitte, sie der „Chefin“ auszuhändigen.

Das Licht ging aus, die Show begann. Nach dem Jongleur kam der Zauberer, nach dem Zauberer kam der Trapezkünstler. Nach dem Trapezkünstler kam der Feuerspucker. Dann kam sie. Endlich. Und nach ihrer Show kam sie von der Bühne, nur vom Schein der Kerzen beleuchtet und sammelte Geld. Und sie bekam Geld. Auch von mir. Spesen, alles Spesen, kein Problem – das würde Gesina schon verstehen.

„Oh, deinem Finger geht es schon besser“, hauchte Alena.

„Ja, ich hatte schon immer eine schnelle Wundheilung.“ Das war alles, was ich sagen konnte.

„Wie interessant!“ raunte Alena im Weggehen und zwinkerte mir zu.

Ich hatte einige Tage Zeit, mich zu erholen. Erst am nächsten Donnerstag würde ich wieder in die „Schwarze Libelle“ gehen können. Zeit zum Aufatmen. Zeit zum Erholen. Zeit zum Schlafen. Ich fühlte mich etwas schlapp in letzter Zeit. Ein großes Glas Whiskey und ein weiches Bett – herrlich.

Ein Brief in meiner Post, von Gesina. Sie hatte vergeblich bei mir geklopft. Ich hatte den Termin platzen lassen. Sie würde morgen wieder kommen.

„Du wirst morgen wieder kommen“, hatte auch Alena noch gesagt.

Ja, das würde ich. Es waren inzwischen drei Wochen vergangen. Ich hatte regelmäßig den Nachtclub besucht, mich umgehört, war einigen Herren auf dem Nachhauseweg gefolgt, wollte mit ihnen sprechen. Doch das wollten die Herren nicht. Die meisten ignorierten mich, der ein oder andere drohte mir, ich solle ihn in Ruhe lassen oder, oder… Ich verstand die Drohung.

Dieser Fall war nicht leicht. Es gab nur eine Möglichkeit – ich musste mich außerhalb der Öffnungszeiten in diesem Laden umsehen. Doch heute erst noch einmal die Show genießen.

Der Herr mit dem Hut hatte große Augenringe und roch heute nach süßem Blut. Nach süßem Blut und Schweiß. Ekelhaft. Im Allgemeinen hatte sich der Geruch in diesem Etablissement in den letzten Tagen deutlich verschlechtert.

„Es riecht heute strenger als sonst“, sagte ich zum Barkeeper, als ich meinen obligatorischen Sekt und – vorsichthalber – ein Glas Whiskey bestellte. Er verstand mich natürlich nicht, doch er grinste.

„Vielleicht ist auch nur deine Nase freier als sonst!“ sagte die Stimme des Blinden, der gerade einige Tische weiter seine Runden drehte.

Wie hatte er mich belauschen können? Ich hatte nicht sehr laut gesprochen, mehr zu mir selbst, dazu dieser Geräuschpegel. Als würde er meine Frage spüren hörte ich ihn im Vorbeigehen sagen:

„Ich bin blind – deshalb funktionieren meine anderen Sinne besser.“

Am nächsten Tag, einem Samstag wollte ich mich nach der Show unauffällig verdrücken und ein wenig umsehen. Doch erst einmal die Show genießen. Der Herr mit dem Hut war heute nicht da. Sein Tisch blieb leer. Dafür war der Vorhang von Nische Sechs geschlossen. Flüsterstimmen waren zu hören. Und ein Geruch nach Schweiß und Blut wehte unter dem roten Samtvorhang hervor.

Nach der Show blickte ich mich wieder um. Nische Sechs war wieder geöffnet, kein Mensch darin zu sehen. Ein voller Aschenbecher auf dem Tisch. Endlich eine Angelegenheit, die ich untersuchen konnte, ein Fingerzeig.

Ich wartete bis Alena an meinem Tisch vorbei gegangen war und in die andere Richtung weiterging. Ich schlich mich in Richtung Nische Sechs, erreichte sie, schlüpfte hinein und versteckte mich halb hinter, halb unter dem Tisch. Und wartete. Und wartete.

Ich musste eingenickt gewesen sein, denn als ich den Kopf erschrocken in die Höhe schnellen ließ, stieß ich mich schmerzhaft an der Tischplatte. Verdammt.

Die meisten Besucher waren gegangen, Alena war nicht zu sehen. Die Dame mit dem großen Adamsapfel räumte die Tische ab. Der Barkeeper mit dem großen Schnurrbart verabschiedete die Gäste. Hätte ich das Sagen in diesem Laden, würde ich als erstes einen Türsteher engagieren. Er hätte sicherlich gemerkt, dass ich, inzwischen ein Stammgast, dieses Mal zwar hereingekommen, aber bis jetzt noch nicht gegangen war. Dem Barkeeper war das egal.

Ich wartete weiter. Ich lehnte mich erschöpft gegen die Wand in Nische Sechs. Ich sackte nach hinten weg. Ich erschrak fürchterlich. Eine Tür in der Wand eingelassen, mit der gleichen Tapete getarnt, wie die restlichen Wände. Endlich kam Bewegung in die Sache.

Ich sah eine Treppe, die nach unten führte, in den Keller des alten Gebäudes. Im Keller war es dunkel. Keine Lampen an der Decke. Die Fenster, blind vom Staub und Schmutz der Jahrzehnte, ließen kaum Licht des ohnehin wolkenverhangenen Vollmondes herein, der hoch über der Stadt thronte.

Ich konnte nur hören, lauschen und versuchen, dabei selbst so leise wie möglich zu sein. Ich hörte dumpfe Geräusche von weiter hinten. Ein leises Grollen, das lauter wurde. Geraschel… Oder Gerangel? Ein erstickter Schrei. Dann war Ruhe. Nur gelegentlich hörte ich etwas, das wie starkes Atmen klang, gemischt mit anderen Geräuschen, die ich nicht einordnen konnte. Ich wusste, dass Alena da hinten war – ich konnte sie riechen.

Ich musste wissen, was dort hinten in der Dunkelheit hinter verschlossenen Türen vor sich ging. Und wenn mich nicht alles täuschte, war dort hinten der Raum, dessen kleines Fenster zum Hinterhof, gleich neben der Eingangstüre zeigte.

Ich zog mich also zurück. So leise ich konnte schlich ich durch den verlassenen Theatersaal. Meine Schritte wurden schneller und schneller. Ich musste raus – an die frische Luft. Das Erlebnis im Keller hatte mich offensichtlich mehr mitgenommen als erwartet. Ich fühlte mich auf einmal benommen. Ich torkelte ins Freie, schnappte nach Luft. Sauerstoff – herrlich! Noch nie hatte sich eine Ladung frische Luft so gut angefühlt. Und noch nie hatte sie so gut gerochen.

Ich ging zum Kellerfenster nahe der Eingangstür, kauerte mich auf den Boden und versuchte, durch das Fenster zu spähen. Die Scheibe war dreckig, ließ keinen Blick ins Innere zu. Das Fenster war vergittert. Doch es war alt. Und das Gitter rostig. Ich konnte mit ein wenig Gewalt die Scheibe mitsamt Gitter einige Millimeter nach innen drücken und so durch einen winzigen Spalt in das Innere des Kellers sehen.

Was ich sah, erinnerte mich an eine mittelalterliche Gefängniszelle. Rohe Steinwände, eine schwere Eisentür, Ringe und Ketten an der Wand. Und ein kleiner vergitterter Abfluss-Schacht in der Mitte des kleinen Raumes. Und in ihn flossen die Reste einer Pfütze aus dunkler, zäher Flüssigkeit. Doch was mir das eigene Blut in den Adern gefrieren ließ, war ein Gegenstand, der so gar nicht in diesen Raum passte und dennoch einiges auf so schrecklich eindeutige Art und Weise erklärte: Auf dem Boden des kleinen Raumes lag der Hut des Herrn aus Nische Sechs in einer Lache aus Blut.

Ich rang nach Atem, richtete mich auf, um augenblicklich festzustellen, dass mein Kreislauf versagte, sich alles um mich drehte und ich auf dem Asphalt zusammenbrach. Ich erhaschte noch einen Blick auf den Vollmond, dessen Licht hinter einer Wolkendecke hervorbrach, bevor es schwarz um mich wurde.

Ich erwachte stöhnend. Meine Augen sahen zunächst nichts, gewöhnten sich aber erstaunlich schnell an die absolute Dunkelheit. Ich sah wie durch einen roten, nebligen Schleier hindurch. Eine Tür. Ich kannte sie. Die Eisentür der Folterkammer.

Augenblicklich erwachten meine Sinne zum Leben, ich wollte mich bewegen – konnte nicht. An Händen und Füßen hing ich gefesselt an den Ketten, die in die Wände eingelassen waren. Mein Körper bäumte sich wie von selbst auf, um sich der Fesseln zu entledigen. Vergeblich. Ich hörte Schritte. Noch bevor die Tür geöffnet wurde wusste ich, dass sie kam. Ich konnte sie riechen. Und sie war nicht allein.

Die gesamte Belegschaft des Nachtclubs hatte sich versammelt, sah mich aus leeren Augen an. Es herrschte Schweigen in diesem kalten, dunklen Raum. Ich konnte meinen rasenden Atem hören.

„Was seid ihr?“ hörte ich mich wie aus der Ferne rufen. Mein Körper bäumte sich wieder auf, wollte die Fesseln loswerden. Noch immer vergeblich.

„Was wollt ihr von mir?“

Alena war näher gekommen. Sah mir ins Gesicht, ihre Nase nur Zentimeter von meiner eigenen entfernt. Ich roch ihren Atem, der nach süßem Blut schmeckte.

„Ihr wollt mich essen!“ schrie ich in Verzweiflung. Zumindest formten meine Lippen diese Worte, doch die Stimme, die da aus meinem Mund kam, klang nicht nach mir, klang nicht nach einem Menschen.

„Wir sind Geschöpfe der Nacht.“

Alena sprach mit ruhiger Stimme, ihr Mund näherte sich meinem Ohr. Sie flüsterte.

„Wir sind die, die man Lykantropen nennt. Wolfsmenschen. Bei Vollmond verwandelt der Virus in unserem Blut unseren menschlichen Körper in eine Bestie, welche es nach Menschenfleisch dürstet. Wir haben gelernt damit umzugehen, können die Verwandlung kontrollieren. Doch den Hunger nach Nahrung können wir nicht unterdrücken. Nicht bei Vollmond. Da müssen wir essen!“

„Mich?“ schrie die Stimme, die mein Mund hervorbrachte. Sie lächelte nur.

„Wir betreiben dieses Theater zur Tarnung und zur Nahrungsbeschaffung. Wir brauchen Geld, um unser Tun zu verheimlichen. Und hier verdienen wir Geld, viel Geld. Du glaubst nicht, wie leicht es ist, die Behörden mit Geld zu beruhigen. Und nirgends ist es leichter, an alleinstehende, verzweifelte Menschen heranzukommen, deren Verschwinden nicht auffällt, die keiner vermisst.“

„Habt ihr Raulf auch gegessen? Raulf wird vermisst, ihr Bestien!“

„Ja, sagt, habt ihr meinen Raulf gegessen?“ Die Stimme kam aus dem Gang, eine kleine Gestalt trat durch die Eisentür hindurch. Das Mondlicht erhellte das Gesicht von Gesina, meiner Klientin.

„Gesina, laufen Sie weg, Sie sind in Gefahr, Sie hätten nicht kommen sollen!“ rief ich in Panik.

Ich erntete heiteres Lachen von all den Freaks, die sich hier in diesem bizarren Schauspiel versammelt hatten.

„Oh“, sagte Gesina. „Ich denke nicht, dass mir hier etwas geschieht.“

Mit diesen Worten warf sie den Kopf in den Nacken und brüllte aus Leibeskräften – ein tiefes, grollendes, nicht-menschliches Schreien und Gurgeln brach aus ihrem Rachen hervor. Ihr Körper krümmte sich. Sie blickte zu Boden während ihr Körper anschwoll, zitterte und bebte. Nach wenigen Sekunden war es vorbei. Sie richtete sich langsam auf. Sie sah mich mit schwarzen Augen an, gefährliche Reißzähne blitzten in ihrem deformierten Gesicht, als sie sich mir näherte. Die anderen Freaks warfen ebenfalls ihren Kopf in den Nacken und brüllten – ihre Gesichter und Körper verformten sich, sie alle wurden zu Bestien, zu Tieren, zu Werwölfen.

Mein Körper wand sich in den Fesseln, ich sah durch den nebligen, roten Schleier, wie sich die Gruppe mir näherte, wie mein letzten Stündlein geschlagen hatte.

„Warum ich? Warum wollt ihr mich fressen? Habt ihr mich deshalb hierher gelockt?“

„Oh, keine Sorge!“

Alena war in Bestiengestalt neben mich getreten.

„Wir sind schon satt.“

„Aber warum bin ich dann hier?“

„Wir unterhalten dieses Theater nicht nur, um uns zu verstecken und Nahrung zu beschaffen. In allen großen Städten dieser Erde gibt es Einrichtungen wie die unsere. Wir halten uns versteckt, besorgen uns Nahrung, um die Zeit bei Vollmond zu überstehen und halten dabei Ausschau!“

„Ausschau? Nach was?“

„Nach dem Virus. Wir können das Virus riechen, das tief in uns schlummert. Und es schlummert nicht nur in uns, es schlummert auch in anderen Menschen da draußen. Es ist ein Virus, das viele Jahre lang unbemerkt bleiben kann, ja es soll sogar Menschen geben, die ihr ganzes Leben lang keine einzige Verwandlung durchgemacht haben. Aber auch diese Menschen haben das Virus weitergegeben an ihre Nachkommen. Und bei den meisten bricht es im Laufe des Lebens aus. Und dann sind wir zur Stelle. Wir holen diese verirrten Bestien nach Hause.

Dein Körper wehrt sich nicht gegen diese Fesseln. Er wehrt sich gegen die Bestie, die tief in dir schlummert und die ausbrechen will. Heute, das erste Mal in deinem Leben. Heute, bei Vollmond. Wir haben dich gewittert, als das Virus stärker wurde in dir und haben dich zu uns gelockt.

Wir werden dich jetzt alleine lassen. Die erste Verwandlung ist nicht kontrollierbar. Doch wir werden dich lehren, damit umzugehen. Die Fesseln werden dich bis zum Schluss halten, so dass du dich nicht selbst verletzten kannst. Nach der Verwandlung solltest du kein Problem damit haben, sie zu lösen.“

Alena hielt inne, schaute mir tief in die Augen und sagte mit einem unheilvollen Lächeln auf den Lippen:

„Nein, wir werden dich nicht essen. Doch du wirst Hunger haben. Wir haben dir etwas aufgehoben. Unter dem Hut. Guten Appetit!“

Am nächsten Morgen erwachte ich aus einem traumlosen Schlaf, zitternd am ganzen Körper. Meine Kleidung hing in Fetzen an mir. Der Hut lag umgedreht neben mir. Er war leer. Blutflecken zierten meinen Körper.

Doch merkwürdigerweise fühlte ich mich erholt, hellwach. Meine Sinne waren mit dem ersten Augenblick des Erwachens voll da, ich hörte die Geräusche von der Straße, ich roch die Stadt da draußen. Ich fühlte mich stark, stark wie nie. Die Tür öffnete sich. Alena trat ein, brachte mir Kleider und Wasser.

„Du musst viel trinken. Komm nach oben wenn du fertig bist.“

Oben im Theatersaal erwartete mich meine neue Familie. Eine Familie von Freaks, von Bestien. Bestien, wie ich eine war. Seit dieser Nacht.

„Hallo großer Detektiv!“ Gesina war an mich herangetreten.

„Die Kleider passen wie angegossen, gut. Ich bin hier nämlich für die Kostüme zuständig.“

„Jeder hier hat seine Aufgabe.“ Alena war ebenfalls herangetreten.

„Und was wird meine sein?“ fragte ich.

Die Frau mit dem großen Adamsapfel bahnte sich ihren Weg zu mir und sprach mit tiefer Stimme:

„Na, mein Freund, ich hoffe, du erwischst es besser als ich. Ich bin übrigens Raulf, willkommen in der Familie!“

Er gab seiner Frau Gesina einen Kuss auf die Stirn.

„Aber mir gefällt dein Kostüm doch so unglaublich gut mein Schatz!“, sagte Gesina mit einem Augenzwinkern.

„Jaja, ich habe mich ja daran gewöhnt.“ Raulf ging weiter.

„Was ist denn nun meine Aufgabe?“ wollte ich wissen.

Seit dieser Zeit erinnert nur noch eine Visitenkarte am Spiegel meiner Chefin an meine Zeit vor der „Schwarzen Libelle“. An meine Zeit als „Lowell Bellier – Privatermittler“.

 

[facebook]http://www.michael-kuehn.net/chaosprinzwp/schwarze-libelle/ [/facebook]

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert