"Paul & Sophie",  Alle Texte,  Geschichten

Regenbogenfarben sind die Geister

Das hier ist die Fortsetzung von "Schwarzbunt sind die Kühe". Wer diese Geschichte noch nicht gelesen hat, sollte das wohl im Vorfeld nachholen. Denn dort lernen sich meine beiden Protagonisten kennen - und dieses Kennenlernen ist schon ziemlich außergewöhnlich... Und weil dieser zweite Teil hier deutlich länger ausgefallen ist, als ich es je geplant hatte, habe ich ihn nach der Einleitung im weiteren Verlauf in Kapitel eingeteilt, die da wären: 

+ Zirkus der Visionen + 
+ Die Küste der Toten + 
+ Feuer in der Nacht + 
+ Die Farbe der Geister + 
+ Eine alte Rechnung +

Teile meines Körpers fielen zu Boden. Eines nach dem anderen. Gnadenlos schnitt der kalte Stahl der Schere in das, was eben noch Teil von mir war. Doch es war kein Blut zu sehen. Die Hand, die die Schere führte, gehörte offensichtlich einem Profi. Dem rothaarigen Mädchen neben mir erging es ähnlich. Tief in den Stuhl eingesunken ließ sie die Prozedur mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Ich hätte sogar schwören können, dass sie ziemlich gut fand, was gerade mit ihr geschah. Sie blickte kurz zu mir herüber und grinste mich an. Die Locken waren von ihrem Kopf verschwunden und lagen jetzt rings um ihren Stuhl in einem Friseursalon in Werderstedt auf dem Boden verstreut.

Der Laden hieß zwar nicht Friseursalon, sondern irgendwas mit „Haar“ und einem schlechten Wortspiel – aber das war mir egal, denn letztendlich führte es zum gleichen Ergebnis: Die langen schwarzen Fransen, die so lange mein Haupt verziert hatten, verteilten sich wie die Asche eines erkalteten Feuers halbkreisförmig auf dem nüchternen PVC um mich herum.

Das war er also, mein erster Friseurbesuch seit Jahren. Wochenlang hatte Sophie versucht, mich dazu zu überreden. Ich war jedoch ziemlich lange standhaft geblieben. Als sie dann aber letztendlich angeboten hatte, sich selbstlos und aus purer Solidarität auch die Haare kurz schneiden zu lassen, da hab ich mir schließlich gedacht: Nun ist aber auch gut! Doch da hatte sie sich schon mit dem Gedanken angefreundet und ich hab versucht, sie wieder davon abzubringen. Vergeblich, wie ihr ja nun schon wisst.

Ihr habt es also spätestens jetzt gemerkt – ich bin‘s wieder, Paul. Letztes Mal hatte ich euch davon erzählt, wie ich Sophie begegnet bin. Und wie wir dann schließlich in der alten Villa den Hund gerettet haben, der seitdem als „Kalle“ durch unser beider Leben purzelt. Ich hatte euch das letzte Mal ja auch schon gesagt: Sophie und merkwürdige Ereignisse ziehen sich an. Und ja, es ist seitdem schon wieder etwas höchst Merkwürdiges passiert. Und davon möchte ich euch erzählen. Mann, Mann, auf was ich mich da wieder eingelassen hatte. Naja, es hatte auch seine guten Seiten, wenn ich ehrlich bin. Doch dazu später mehr.

Es war spät im Jahr, der Herbst vorbei, die ersten Türchen des Adventskalenders geöffnet. Im kommenden Frühjahr standen unsere Abiturprüfungen an. Besonders fleißige Mitschüler gerieten bereits jetzt in Panik und begannen zu lernen. Auch meine Eltern gingen davon aus, dass ich viel Zeit mit Lernen verbrachte, wenn ich nicht zu Hause war. In der Praxis sah es etwas anders aus – aber das mussten sie ja nicht unbedingt wissen. Sophies Eltern hingegen wussten es natürlich und waren stolz auf uns, weil wir unsere Lebenszeit nicht ausschließlich mit dem Lernen solch unnötiger Dinge wie Mathematik und Physik vergeudeten. Haben sie mehr oder weniger wörtlich so gesagt. Ich hab mich inzwischen an solche Dinge gewöhnt.

Es war also Anfang Dezember, die Tage wurden merklich kühler und kürzer. Mein Kopf war, genau wie mein Körper, bereits auf das ausklingende Jahr eingestimmt und ganz bestimmt nicht mehr auf große Abenteuer aus. Und doch haben wir uns zu eben dieser Zeit mit Sack und Pack in einem alten VW-Bus Richtung Holland aufgemacht, auf eine trostlose, zu Recht größtenteils verlassene Insel und haben in einem kleinen Zirkuswagen am Strand gewohnt – ganze zwei Wochen lang! Eingebrockt hatten uns das Herbert und Claudia. Herbert und Claudia sind zwei sehr, naja, sagen wir alternative Menschen, die dem Konsum bewusstseinserweiternder, aber ausschließlich rein natürlicher Substanzen nicht abgeneigt sind, an Geister glauben, insgesamt im besten Sinne nicht ganz normal sind, im klassischen Sinne relativ erfolglos erscheinen, im Gegensatz dazu aber sehr erfolgreich eine Tochter in die Welt gesetzt haben, in die ich mich zufällig verliebt habe. Was ich dieser übrigens bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht so eindeutig gesagt hatte. Herbert und Claudia sind Sophies Eltern.

Sie wohnen noch immer in ihrem „Tiny House“, so ist der korrekte Terminus für ihr Minihaus, das eine Art hypermodernen Wohnwagen darstellt, der gerne ein Haus wäre. Dieser steht auf einem riesigen Grundstück am Ortsrand und man fühlt sich nicht mehr als Teil der modernen Welt, sobald man es durch die Gartentüre betreten hat. Besonders in der Dunkelheit, wenn sie die Lichterketten und Laternen anschmeißen. Man fühlt sich dann beinahe so, als wäre man Teil einer Geschichte, in der sich Elfen, Geister und Menschen zum Kartenspielen am Lagerfeuer treffen, um danach böse Trolle zu verkloppen. Und das ist auch der Grund, warum ich beinahe jede freie Minute dort verbringe. Meine Eltern dachten zu dem Zeitpunkt, das würde an unserer rein theoretisch tatsächlich existierenden Lerngruppe liegen – aber in Wirklichkeit bin ich wegen diesem nicht zu beschreibenden Gefühl von Leichtigkeit dort, wegen dieser besonderen Atmosphäre, die mich innerlich so ruhig werden lässt. Und natürlich auch wegen Sophie. Auch wenn wir unseren Status bis zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht eindeutig geklärt hatten – ich meine, klar, wir verbrachten auch da schon beinahe unsere gesamte Freizeit miteinander. Aber es lief nichts im klassischen Sinne. Vielleicht auch, weil ich mich noch nicht getraut hatte, irgendwas in der Richtung zu unternehmen. Ich bin nicht der Mutigste in solchen Sachen, müsst ihr wissen.

Sophie hat kein eigenes Zimmer, sie hat ein eigenes Mini-Haus, das noch kleiner ist, als das Haupt-Mini-Haus ihrer Eltern, sogar mit eigener Nasszelle. Die Nasszelle ist zwar nicht viel größer als eben das, also eine Zelle, aber es ist alles da, was man braucht. Im Grunde wohnt Sophie also alleine in einem Haus. Und in eben diesem erlebten wir aus heiterem Himmel dann eines Tages Herberts großen Auftritt. Irgendwann, urplötzlich stand er in der Tür, räusperte sich und meinte:

„Hey, ihr zwei, alles gut hier drin? Ähm, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wie wäre das: Ich fahre euch nächste Woche nach Holland und ihr könnt zwei Wochen lang „all inklusive“ Wintercamping am Strand machen in einem schnuckeligen Zirkuswagen. Wie klingt das? Ich meine, das klingt doch… oder?“

Ich war recht verwundert darüber, dass Herbert besagten Zirkuswagen mit dem Attribut „schnuckelig“ versehen hatte – erst dann dämmerte mir der volle Umfang seiner Aussage.

„Papa, geht’s dir gut?“ Sophies Frage war durchaus gerechtfertigt.

„Ja, Finchen, doch, doch, es ist nur so… Deine Mutter hat gewissermaßen ihre physische Anwesenheit doppelt verplant, unabsichtlich natürlich, das ist ja klar, aber dennoch…“

Wir starrten Herbert mehr oder weniger ausdruckslos an.

„Papa, erzähl mal grad ein bisschen mehr und von vorne, ja?“

„Ja, seht mal, es ist so. Deine Mutter war doch so glücklich, dass sie zwei der begehrten Tickets für den Zirkus der Visionen ergattern konnte. Nur weiß man ja vorher nie, wann und wo er stattfinden wird. Und jetzt findet er ausgerechnet zeitgleich mit ihrem Rückführungs-Seminar am Bodensee statt. Und glücklicherweise hat sie sich für den Bodensee entschieden. Jetzt dachte ich, ihr zwei könntet doch nach Holland, ich fahr euch natürlich und dann hab ich mal Zeit hier ein paar dringende Reparaturen durchzuführen und ein paar Sachen fertig zu machen – das ist ja alles noch gar nicht so, wie es sein soll. Die Zeit, seit wir hergezogen sind ist aber auch ratzfatz vergangen, Sapperlot…“

Ich stehe ja auf so längst vergessene, skurrile Worte. Die baue ich gerne in meine düsteren Geschichten und Gedichte ein. Und Herbert ist dafür ein wahrer Quell der Inspiration! Ich möchte es aber an der Stelle kurz machen. Irgendwann hatten wir verstanden, um was es ging. Es gab zwei bereits bezahlte, sehr begehrte und schwer zu bekommende Tickets für diesen „Zirkus der Visionen“. Da zum Zeitpunkt des Erwerbs noch nicht feststand, wann er stattfinden würde, gab es nun ein Problem: Sophies Mutter wollte in dieser Zeit lieber einer anderen merkwürdigen Beschäftigung nachgehen, was Herbert auffällig erleichternd zu finden schien. Zunächst musste uns aber Claudia noch ein bisschen mehr über den Zirkus der Visionen erzählen. Nach ihrem Vortrag habe ich ganz klar gewusst: „Auf keinen Fall!“ Aus so unwahrscheinlich vielen Gründen, wie ich euch versichern kann. Gesagt habe ich allerdings: „Klingt toll!“, denn ich habe das Leuchten in Sophies Augen gesehen.

Der Zirkus der Visionen ist kein richtiger Zirkus, er ist eine Art Convention für fortgeschrittene Paradiesvögel, die selbst dem durchschnittlichen Paradiesvogel schon eindeutig zu schräg sind. Mit Geistern und Elfen sprechen zu können gehört da eher zum Basis-Repertoire und wer das nicht kann, ist ein ganz schöner Außenseiter. Weltenbummler, Aussteiger, Liedermacher, Philosophen und Trommler für den Weltfrieden sind dort genauso zu finden wie Akrobaten, Gurus, Erfinder und Tagträumer. Das Treffen steht jedes Jahr unter einem anderen Motto, es gibt Vorträge und Workshops und das ganze dient letztendlich dazu, der eigenen Erleuchtung einen Schritt näher zu kommen und auf dem Weg dahin vielleicht sogar noch die Menschheit zu retten. Ein ehrgeiziges Ziel, wenn ihr mich fragt, aber wer weiß – wahrscheinlich wären wir der Rettung schon deutlich näher, wenn diese Menschen die Geschicke der Welt lenken würden, anstatt der korrupten Regierungen. Ups, habe ich das gerade wirklich gesagt? Ich verbringe echt viel Zeit mit Sophie und ihren Eltern…

Diese ganze Zirkus-Idee entspringt dem Kopf eines reichen Sonderlings, der sein Geld angeblich gerne für humanitäre Zwecke, Klimaforschung und so abgedrehte Sachen wie eben dieses Treffen ausgibt, weil er die ansonsten üblichen Standardbeschäftigungen der Schönen und Reichen schon längst durchgespielt hat. Er nennt sich selbst nur Passepartout, nach dem Diener aus „In 80 Tagen um die Welt“ – denn schließlich steht auch er nur im Dienste einer höheren Sache, nämlich der eben erwähnten Rettung der Menschheit. Und wenn Passepartout ruft, dann kommen sie alle gerannt, die schrägen Vögel.

Bis wir rennen konnten galt es allerdings, uns irgendeine Geschichte einfallen zu lassen, um meine Eltern davon zu überzeugen, dass alles seine Richtigkeit hat, wenn ich kurz vor den Weihnachtsferien mal eben für zwei Wochen verschwinde. Die Wahrheit kam dafür absolut nicht in Frage, die hätte den konservativen Erwartungen meiner Eltern nämlich auf keinen Fall standgehalten. Wir haben uns also einen zweiwöchigen Intensiv-Lern-Aufenthalt in einem Schullandheim ausgedacht. Für den wir kurzfristig aufgrund unserer guten Leistungen in der Schule als Dozenten auserwählt worden sind, um zwei unerwartet erkrankte Mitschüler zu ersetzen. Ich muss zugeben, dass das gefälschte Schreiben der Schule täuschend echt aussah. Chapeau, Herbert!

Und dann ging es los.

Zirkus der Visionen

Wir fuhren also mit dem liebevoll gepflegten T4 Dieselbulli über die Autobahnen bis rüber zur nordholländischen Küste. Also eigentlich fuhr Herbert. Er saß gut gelaunt am Steuer, Sophie saß entspannt in ihr Buch versunken auf dem Beifahrersitz. Ich kann beim Fahren nicht lesen, da wird mir schlecht. Deshalb hörte ich über meine Ohrstöpsel ein bisschen Heavy Metal, den ich in letzter Zeit dem gruftigen Zeug vorziehe, während ich mir die Rückbank mit Kalle, dem schwarzweißen Plüschball teilte, der alles mit einer aristokratisch anmutenden Gelassenheit überblickte.

Im Küstenstädtchen Harlingen haben wir dann noch einige Vorräte eingekauft, die wir in unseren großen Rucksäcken verstaut haben. Und ich hab mir eingebildet, dass wir auffällig viele buntgekleidete Menschen im Supermarkt gesehen haben. Nein, ich habe es mir nicht eingebildet, denn mein Verdacht hat sich mehr als bestätigt, als wir mit der Fähre zu dieser kleinen autofreien Insel übersetzen und die eiskalte Seeluft einatmeten. Ab hier dann natürlich ohne Herbert, der sich schon wieder gut gelaunt auf der Rückfahrt befand.

„Sophie, findest du nicht auch, dass dein Vater ein bisschen zu erleichtert war, dass er nicht zu diesem visionären Zirkus mit muss?“ fragte ich Sophie vorsichtig. Ganz geheuer war mir die Sache nämlich nicht.

„Ach was, der freut sich hauptsächlich auf zwei Wochen sturmfreie Bude!“

Sophie freute sich dafür umso mehr auf das, was uns auf der Insel erwarten sollte. Wohl war sie schon einmal als kleines Kind mit ihren Eltern auf einer dieser Veranstaltungen gewesen, konnte sich aber nur noch schemenhaft an einzelne vage Bilder erinnern, die sich aber hauptsächlich als bunt und fröhlich in ihren Kopf eingebrannt hatten. Um uns herum waren jedenfalls auch sehr viele Farben zu sehen und es roch schon bald intensiv nach Räucherstäbchen und möglicherweise anderen Substanzen. Irgendwo wurde getrommelt und manch einer sang ein Liedchen. Jeder in seinem eigenen Rhythmus – und der ein oder andere auch in seiner ganz eigenen Sprache…

Drüben auf der Insel, da wurden wir von einigen – vielleicht auch von nahezu allen – Einwohnern des einzigen kleinen Dorfes zwar etwas misstrauisch, aber auch neugierig begrüßt. Tourismus war hier zwar grundsätzlich nichts außergewöhnliches, aber in dieser Jahreszeit und in dieser geballt-bunten Form natürlich schon. Vreeland war eine schmale, langgezogene Insel, die in Ost-West-Richtung verlief und so einen kilometerlangen Sandstrand Richtung Norden zur offenen Nordsee hin zu bieten hatte. Außer dem kleinen Dorf, das den felsigeren östlichen Teil der Insel einnahm, gab es nichts weiter auf Vreeland. Nichts außer Sand und Dünengras. Richtung Westen erstreckte sich dieses Nichts ins scheinbar Unendliche. Und irgendwo da musste jemand einen Winterzirkus der besonderen Art hingezaubert haben. Ich war gespannt.

Die Leute von der Insel hatten alles zusammengetragen, was sich gegen einen kleinen Obolus als Transportmöglichkeit für Gepäck anbieten ließ – Bollerwägen, Schubkarren, Fahrradanhänger. Einen denkbar merkwürdigen Anblick bot die Prozession, die dann die Hauptstraße entlang, die letzten Häuser hinter sich lassend, hinein in die einsame Dünenlandschaft zog. Ich hörte, wie sich die Menschen auf Deutsch, Englisch oder Französisch unterhielten. Ein paar Brocken einer skandinavischen Sprache dazwischen. Das Publikum war wohl aus verschiedenen europäischen Ländern angereist.

So weit das Auge reichte sahen wir sanfte Hügel aus feinstem Sand, grüne Grasbüsche, sogar frei laufende Rinder. Und immer wieder überraschte mich der traumhafte Blick aufs offene Meer auf unserer rechten Seite, wenn der Pfad sich näher zur Küste hin schlängelte. Wie lange wir gelaufen sind, kann ich im Nachhinein echt nicht mehr sagen. Wenn ich Google Earth Glauben schenken soll, dann war es gar nicht mal so weit. Der feine Sand machte nur jeden Schritt doppelt so schwer. Weil man auf ihm so gut vorankommt wie in diesen Alpträumen, in denen man vor einer Gefahr fliehen muss. Aber nicht kann. Ihr kennt das sicherlich! Über uns war nichts außer einem traumhaft blauen Himmel und vereinzelten weißen Wölkchen. Ein fantastischer Wintertag. Etwas windig zwar wie an jeder Küste und dazu noch klirrend kalt, aber irgendwie auch erfrischend und klar. Es war für die kommenden zwei Wochen keinerlei Niederschlag angesagt und außer dem Nachtfrost hatten wir wohl mit keinerlei Turbulenzen zu rechnen. Zumindest nicht, was das Wetter betraf.

Irgendwann kamen wir dann beim Zirkusgelände an. Und was soll ich sagen: Es war schon atemberaubend, das so zu sehen! Von einer kleinen Anhöhe aus konnten wir in eine weitläufige Senke blicken, in der jemand eine fantastische Traumwelt aufgebaut hatte. Ich knipste ein paar erste Eindrücke mit meiner Spiegelreflexkamera. Das Herzstück des Geländes war das beeindruckende Zirkuszelt in der Mitte. Es war ein stattliches Vier-Mast-Zelt mit kreisrunder Grundfläche, geschmückt mit zahlreichen Lichterketten und ringsum schwarz-rot gestreift. Um das Zelt herum waren verschiedene kleinere schwarz-rote Zelte und einige große, altertümliche Wohnwagen gruppiert, die sich als Imbissbuden, Verkaufsstände und Chill-Out-Areas entpuppten. Um diese Flaniermeile herum standen dann in einem noch größeren Kreis die unterschiedlichsten Zirkuswägen, die man sich vorstellen kann und die als Unterkünfte für die Besucher dienten. Hatte hier jemand sämtliche auf dem Markt befindlichen Zirkuswägen verschiedenster Epochen aufgekauft und auf diese Insel verfrachtet? Ich war wirklich fasziniert.

Wir hatten auf unseren schwarz-roten Tickets aus dickem Leinenpapier die Nummer unseres Wagens in Gold eingeprägt. Es war die 13. Das war insofern klar, weil die 13 mir nicht geheuer war, auch wenn Sophie mir versicherte, dass sich in der Zahlenmystik mindestens ebenso viele positive Eigenschaften zuordnen ließen als negative – und sie Zahlenmystik sowieso für Mumpitz hielt. Wagen Nummer 13 entpuppte sich als liebevoll restaurierter Holzwagen mit halbrundem Dach und kleiner Veranda, in bunten Pastellfarben angestrichen. Innen mit duftendem Kiefernholz ausgestattet enthielt er einen Tisch mit zwei Stühlen, ein gemütliches Doppelbett mit hübsch drapierter rot-weiß-karierter Bettwäsche und ein kleines Kämmerchen mit einer clever eingebauten Trenntoilette. Fließendes Wasser war leider Fehlanzeige – es gab aber einen separaten Sanitärbereich irgendwo auf dem Gelände, zumindest verkündete das ein Hinweisschild, in dem man mit warmem Wasser duschen und sich Trinkwasser in Kanistern zapfen konnte. Zum Glück wurde der Wagen auch durch eine topmoderne elektrische Wandheizung auf angenehme Temperaturen gebracht. Sogar zwei funktionierende Steckdosen entdeckten wir. Den Strom dazu lieferten mehrere große Dieselgeneratoren, die weit außerhalb des Geländes vor sich hintuckerten.

 „Wie will dieser Passepartout eigentlich mit Dieselgeneratoren die Welt retten?“ Sophie kratzte sich fragend am Kopf. „Ist wahrscheinlich Bio-Diesel“, war meine wenig geistreiche, aber durchaus witzige Antwort, wie ich finde.

Strom wurde zudem reichlich gebraucht. Damit wurden zum einen die unzähligen bunten Lämpchen betrieben – pastell-bunte Lämpchen waren wohl DAS Ding auf diesem Festival; sie dienten als Wegmarkierung, als Dekoration und als Markierung der Außengrenze rund um den ebenfalls pastell-bunt dekorierten Bauzaun, der das gesamte Gelände kreisförmig umschloss. Zum anderen mussten mit dem Strom die Ess- und Trinkstände mit Energie versorgt werden, außerdem die Ton- und Licht-Anlage im Zirkuszelt. Ich war in dem Moment auch hauptsächlich von der Frage fasziniert, wie zum Teufel das alles hierher gekarrt worden war. Vermutlich mit einem Schiff vom Festland aus, das direkt am Strand festgemacht hat. Vielleicht verfügte Passepartout aber auch über ein Geschwader an privaten Fracht-Helikoptern. Möglich ist ja grundsätzlich alles, wenn man das nötige Kleingeld hat.

Die gesamte Szenerie erinnerte mich jedenfalls sehr an diesen Film mit den Vampiren in der Freakshow. Hieß der Mitternachtszirkus? Ist schon eine Weile her, dass ich ihn gesehen habe.  Ich hoffte einfach nur, dass dieser Zirkus hier zuverlässig vampirfrei war. Sicher war ich mir da nämlich nicht. Zum Glück konnte ich aber die Dächer einiger Häuser des Dorfes in der Ferne erahnen, was mich echt ein wenig beruhigte. So fühlte ich mich nicht ganz so abgeschnitten von der modernen Welt. Wobei noch zu klären wäre, inwiefern dieses Dorf überhaupt zur modernen Welt gehört. Handyempfang war jedenfalls absolute Mangelware auf der gesamten Insel. Aber wozu ins Handy schauen, wenn man das Meer vor der Nase hat? Grandios an diesem Platz war nämlich der direkte Zugang zum kilometerweiten Sandstrand und der offenen Nordsee dahinter. Ich meinte, in der Ferne sogar einige nackte Gestalten im Meer gesehen zu haben. Dass sie nackt waren vermutete ich nur. Aber wer Herbert und Claudia kennt, der hat so seine eigenen Bilder im Kopf. Und der weiß auch, dass sich manche Menschen nicht einmal von Temperaturen um den Gefrierpunkt davon abhalten lassen, sich in die Fluten zu stürzen.

Passepartout hatte das Spektakel im Zirkuszelt eröffnet. Ein kleiner, untersetzter Mann mit Halbglatze in wallenden Gewändern. Nicht unsympathisch, aber doch irgendwie undurchschaubar. Mit einer unangenehm hohen Stimme und in schlechtem Englisch. Seinen Auftritt hatte er ein wenig überinszeniert, wenn ihr mich fragt. Die Boxen der Anlage wackelten jedenfalls im Rhythmus des epischen Instrumentaltracks, als er in mystisch blaues Licht getaucht aus dem künstlichem Nebel heraus in die Manege trat und sich mit ausgestreckten Armen einmal im Kreis drehte und feiern ließ. Wir kümmerten uns nicht weiter um ihn. Er spielte auch erstmal keine große Rolle mehr…

Es gab abends Konzerte im Zirkuszelt, Akrobatikaufführungen und Feuershows. Ich glaube, es waren immer die gleichen Leute, die in immer anderen Kostümen auftraten und mal Musiker, mal Artisten waren. Aber das tat den Aufführungen keinen Abbruch, die Typen waren gar nicht mal so übel. Wer hätte gedacht, dass der Kraftmensch gleichzeitig so einfühlsam die Harfe spielen konnte und die grazile Seiltänzerin eine genauso grandiose Death Metal Growlerin war. Tagsüber konnte man sich informieren, mit anderen diskutieren und seine eigenen Vorträge halten, wenn man sich in eine Liste eintrug. Große Lagerfeuer wurden bei Einbruch der Dunkelheit am Strand entzündet.

Sophie und ich hielten uns mit dem Programm eher zurück, verbrachten die Tage mit Kalle am Strand, machten in unsere dicken Jacken eingepackt lange Spaziergänge, wärmten uns in unserer gemütlichen Behausung bei einer Tasse Tee auf und schauten uns abends immer gerne das Showprogramm an. Wir aßen uns einmal quer durch die Essensangebote an veganen, ayurvedischen, orientalischen oder auch vollmondgesegneten Speisen. Wir tranken die frischen Fruchtsäfte des Saftstandes, an dem man immer relativ lange anstehen musste, weil er neben Fruchtsäften auch noch andere Dinge unter dem Ladentisch hatte, auf die ich nicht näher eingehen will. Tatsächlich war all das schon im Ticketpreis enthalten und wir mussten nirgendwo etwas bezahlen. Auch wenn ich nicht weiß, wie viel die Tickets gekostet haben – und sie können nicht allzu viel gekostet haben, wenn man Sophies Eltern kennt – es war nicht möglich, dass diese Veranstaltung in irgendeiner Form kostendeckend für den Veranstalter laufen konnte. Ob Passepartout also wirklich ein Menschenfreund war und einfach nur Erleuchtung und Rettung unter den glücklich Auserwählten verbreiten wollte?

Dann kam der Abend, an dem Kalle auf unserer kleinen Abendrunde plötzlich den Turbogang einlegte und einer Terrierdame hinterherrannte, die er schon den ganzen Tag über angeschmachtet hatte. Ja, Kalle war da wohl weniger schüchtern als ich. Die Sonne war schon eine Weile untergegangen, in der Ferne am Horizont war noch ein letztes, rotes Glühen zu erahnen, doch der Strand lag bereits in absoluter Dunkelheit. Das einzige Licht kam von einem beinahe vollen Mond am wolkenlosen und sternenübersäten Himmel. Sophie und ich rannten schnellen Schrittes hinterher, riefen immer wieder nach Kalle. Wir entfernten uns weiter und weiter  vom Zirkusgelände Richtung Westen, auf den unbewohnten Teil der Insel. Bald hatten wir auch die anderen späten Strandspaziergänger hinter uns gelassen, die aber ohnehin an einer Hand abzuzählen waren. Die meisten Teilnehmer saßen wohl lieber an einem der zahlreichen wärmenden Lagerfeuer und erzählten sich Geschichten. Die Gegend um uns wurde jedenfalls immer wilder, Hinweis- oder Verbotsschilder hatten wir schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, die Lichter des Zirkus waren längst verschwunden und die einzigen Geräusche kamen von den Wellen, die sacht in unendlichem Rhythmus an den Strand klatschten. Sophie hatte sich irgendwann enger an mich geschmiegt und ich hatte meinen Arm um sie gelegt. Es hätte also durchaus romantisch sein können, aber wir waren echt in Sorge um Kalle. Ich dachte trotzdem darüber nach, endlich mal mit Sophie über unseren Beziehungsstatus zu sprechen. Ich wollte gerade Luft holen, da kam sie mir zuvor.

„Paul, da ist was!“ flüsterte sie. In diesem Moment hab ichs auch gesehen. Etwas großes, Unförmiges lag da im Sand. Nicht Kalle, nein, dafür war es natürlich viel zu groß. Wir konnten uns nicht im Geringsten vorstellen, was das sein konnte. Es war eckig, schien durchlöchert zu sein und definitiv nicht von der Natur, sondern von Menschenhand erbaut. Einen Moment blieben wir stehen, schauten gebannt auf den Schatten vor uns und lauschten. Nichts war zu hören, nichts bewegte sich.

„Gehen wir mal hin, oder?“ fragte Sophie.

„Klar, was sonst!“ sagte ich etwas schneller als nötig.

„Gehst du vor?“ hörte ich sie fragen.

Ich hab natürlich erstmal schlucken müssen. Dann hab ich aber – clever wie ich bin – gesagt: „Klar, wenn du hier alleine stehen bleiben willst…“

Sophie hat nur kurz gezögert, dann nach rechts und links geschaut und schnell geantwortet: „Nee, ich komm lieber mit!“

Ich tat, als wäre es mir egal. Innerlich war ich ganz schön erleichtert. Wir gingen also langsam auf das Monstrum zu. Erst, als wir direkt davor standen, konnten wir erkennen, was es war. Auch, wenn wir uns seine Anwesenheit nicht erklären konnten.

„Das ist’n Panzer!“ Sophie war genauso baff wie ich.

„Ein alter Panzer…“ Ich wollte da schon präzise sein. Unsere Angst war schon fast vergessen, wir waren einfach zu erstaunt.

„Alt ist gut“, meinte Sophie. „Das Ding besteht nur noch aus Rost und Metallschrott. Und Löchern… Der liegt wohl schon ne Weile hier auf dem Trockenen!“

„Und ich hab meine Kamera nicht dabei, Mist! Aber wie kommt der Panzer hier her?“ fragte ich, mehr zu mir selber.

„Zwei“, hörte ich Sophie sagen.

„Was ist los?“

„Zwei“, sie streckte den Arm aus: „Da drüben liegt noch einer.“

Tatsächlich fanden wir noch einen zweiten, halb verrotteten Panzer. Sein Abschuss-Rohr (oder wie das heißt) zeigte schräg nach oben Richtung Norden, als wolle es mit dem Finger auf etwas deuten. Ich folgte unwillkürlich mit meinem Blick und sah einen weiteren, merkwürdigen Schatten. Ich kniff die Augen zusammen und schaute in die Dunkelheit, bis ich erahnen konnte, was es war.

„Sophie, lass uns mal da vor gehen!“

Wir gingen auf das zu, was ich aus der Ferne richtigerweise als Hinweisschild enttarnt hatte. Ein Hinweisschild so weit von jedem zivilisierten Strand entfernt, in der Nähe von ausrangierten Panzern. Das konnte nur interessant sein.

„Mach mal dein Handy an, Paul, dass wir was lesen können!“

Ihr Wunsch war mir Befehl.

„Pas Op! Na, das heißt dann wohl, wir sollten aufpassen…“ Sophie begann, das Schild zu lesen. „Hmm, levensgevaarlijk… das möchte mir gar nicht gefallen… Paul, bleib mit dem Licht da!“

Ich war weiter nach rechts geschwenkt.

„Hier steht‘s auf Englisch“, ich kniff die Augen zusammen. „Das sollten wir ja zumindest theoretisch besser beherrschen, als Holländisch!“

„Na, dann lass mal deine Spontanübersetzung hören!“

„Gut, ich versuch‘s… Also, wir sind hier wohl auf Militärgelände… Übungsgelände… Aufpassen, Lebensgefahr! Wenn die rote Fahne oben ist, könnten Übungen im Gange sein und wir sollten uns entfernen… Welche rote Fahne?“

Ich hörte Sophie den Atem anhalten: „Die da oben vielleicht?“

Ich leuchtete in den Himmel. Am Schild war eine Stange befestigt. Ein Miniaturfahnenmast. Und oben an der Spitze, da wehte eine rote Fahne. In diesem Moment hörten wir ein Geräusch. Ein Brummen, das lauter wurde. Wir sahen, wie einer der Panzer im Hintergrund sich zu bewegen begann.

„Das kann doch nicht sein…“ dachte ich laut. Dann hab ich gesehen, dass sich der Panzer gar nicht bewegte, sondern nur sein Schatten. Ein Schatten, den er nur werfen konnte, weil er plötzlich von grellem Licht hinterrücks angestrahlt wurde, das aus der Ferne langsam näher kam. Und mit ihnen wurde das Brummen lauter.

„Da kommt ein Auto!“ sagte Sophie.

„Oder ein Panzer“, meinte ich.

„Auf jeden Fall sollten wir abhauen.“

„Gute Idee. Auf Drei?“

„Nee“, sagte Sophie und begann zu laufen. „Sofort!“

Die Küste der Toten

Wir rannten am Strand entlang, zurück in Richtung Zirkusgelände. Zumindest hofften wir, dass wir in die richtige Richtung unterwegs waren. Wir rannten so schnell wir konnten. Und das war nicht besonders schnell, denn Daunenjacken und Winterstiefel auf Sand sind nicht unbedingt die besten Rahmenbedingungen für Kurzstreckensprints.

„Sophie, warte mal“, hab ich dann irgendwann gekeucht. „Bleib mal stehen!“

Sophie wurde langsamer, blieb mit gekrümmtem Oberkörper stehen und stütze ihre Hände auf den Knien ab. Dann ließ sie sich in den Sand fallen.

„Ist weg, oder?“ japste sie.

„Jo, schon ne Weile!“ sagte ich und lies mich zu ihr plumpsen.

„Warum bist du dann noch weiter gerannt?“

„Weiß nicht“, ich holte einmal tief Luft. „Wollte auf Nummer Sicher gehen.“

Da lagen wir also im Sand. Und schauten in den Himmel, sahen tausende und abertausende Sterne, den silbernen Mond, hörten die Wellen, spürten den eiskalten Wind im Gesicht und den Sand unter unseren Körpern.

„Sophie, was ich dich schon voll lang mal fragen wollte…“ begann ich, selbst von meinem Mut überrascht, doch ich kam nicht weiter. Denn wir hörten plötzlich ein weiteres Geräusch. Mit einem Ruck setzten wir uns auf!

„Da kommt doch jemand!“ raunte Sophie. „Ich hör doch jemanden atmen!“

„Atmen ist gut. Das klingt nicht gesund.“

Und mit einem Mal hüpfte ein Schatten aus den Dünen auf uns zu, bellte einmal zur Begrüßung und leckte Sophie übers Gesicht.

„Kalle, Mann, du hast mich zu Tode erschreckt!“ rief Sophie.

„Und mich komplett ignoriert!“ fügte ich hinzu.

Kalle strafte mich mit einem hochnäsigen Blick, seufzte einmal und leckte weiter an Sophie herum.

„Hi, ihr zwei, ist das euer Hund?“ fragte plötzlich eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien und mit starkem holländischen Akzent sprach. (Ich kann aber keinen holländischen Akzent nachmachen – deshalb müsst ihr euch den einfach dazu denken…) Wir sprangen beide gleichzeitig auf und schauten uns um. Ich nestelte umständlich an meinem Handy rum und wollte uns Licht machen, aber jemand anderes kam mir zuvor. Das Licht einer Taschenlampe ging an und beleuchtete ein grinsendes Gesicht. Es gehörte einem Typ in meinem Alter, dessen Gesichtszüge zwar durch die ungünstige Beleuchtung etwas verschoben aussahen, der aber definitiv braungebrannt, groß und breit war. Sophie schien das auch aufgefallen zu sein. Sie starrte die nächtliche Erscheinung fasziniert an.

„Ja“, hörte ich sie sagen. „Unser Hund.“ Sie strich sich eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht. Da war natürlich keine mehr, aber das war ihre Verlegenheitsgeste. Ich starrte mit offenem Mund zu Sophie, dann zu dem Typ. Und dann wieder zu Sophie.

„Ja“, sagte auch ich. „UNSER Hund…“ Mit diesen Worten trat ich neben Sophie und legte meinen Arm um sie. Der Typ grinste unbeeindruckt weiter.

„Toller Kerl. Bisschen zu nah am Stützpunkt gewesen. Ich glaube, er hatte ein Date. Die kleine Dame ist aber schon zurück gerannt. Er wollte nicht alleine weiter, da hab ich ihn mal lieber begleitet. Dachte mir, dass er zu den Freaks gehört.“

Kalle war schwanzwedelnd zu ihm rübergelaufen und rieb sich jetzt an seinen Beinen wie eine Katze.

„Oh, danke dir. Das war aber sehr nett von dir!“ hörte ich Sophie sagen.

„Ja, dito“, war alles, was ich sagen konnte.

„Nee, Tommy. Ick hees Tommy. Ich meine, ich heiße Tommy, nicht Dito.“

„Ja, schon klar!“. Was wurde das hier?

Sophie hat sich aus meiner Umklammerung gelöst, ist zu dem Typen hin und hat ihm die Hand geschüttelt.

„Ich bin Sophie, freut mich!“ hörte ich sie sagen.

„Ja, mich auch“, schleimte Tommy. „Und wer ist dein Freund?“

„Oh, das ist Paul. Paul, sag Tommy hallo!“

Ich nickte ihm zu: „Hi!“

Aber Tommy kam auf mich zu, streckte die Hand aus, ich ergriff sie automatisch und schüttelte sie.

„Sollten wir dann mal zurück?“ fragte ich Sophie.

„Ja, ist sicher schon weit nach Mitternacht“, meinte sie. „Der Zirkus wird schon im Nachtmodus sein.“

„Ja, die schlafen sogar schon alle. Ist schon fast zwei Uhr nachts“, sagte Tommy ungefragt.

„Kommst du mit zurück?“ fragte Sophie.

„Ja, klar, ich muss zurück ins Dorf, ist ne ganz schöne Strecke.“

„Du wohnst hier?“ hörte ich Sophie.

Es ging alles recht schnell und ich kann im Nachhinein gar nicht sagen, wie es passiert ist, aber plötzlich schlenderten wir zu dritt am Strand entlang, Tommys große Gestalt zwischen uns beiden, die Arme um uns gelegt, den rechten um mich, den linken um Sophie. Sophie und Tommy unterhielten sich grandios. Ich erfuhr ungefragt, dass Tommy auch auf der Insel im Dorf wohnte. Er schleicht oft in der Nacht auf der Insel herum, erzählte er. Gibt nicht so viel Aufregendes für junge Leute. Vor allem am Wochenende. Sagte er.

„Und was hast du sonst noch vor heute Nacht? Also, außer stören, mein ich?“ hörte ich mich plötzlich fragen. Das war ein bisschen frech, ja. Aber Tommy hat mich halt in dem Moment echt genervt.

„Paul, was soll denn das?“ zischte Sophie.

Tommy lachte: „Nee, ist schon gut, du hast ja recht. Ich hab auch noch was vor. Aber passt auf, dass euch die Geister nicht holen!“

„Geister?“ fragte Sophie und lieferte Tommy einen Grund, noch weiter mit uns abzuhängen. Na danke.

„Die Geister von Noord-Vreeland. Das war einmal ein Dorf. Ist aber schon viele Jahrhunderte versunken. Das Meer hat es sich geholt. Sturmflut in einer Vollmondnacht. Muss schlimm gewesen sein, unerwartet und erbarmungslos. Weiß aber nicht alle Details. Noord-Vreeland erstreckte sich früher an der ganzen Küste entlang von eurem Festivalgelände bis zu unserem heutigen Dorf, Oost-Vreeland. Nur insgesamt weiter im Norden. Da, wo jetzt halt das Meer ist. Ein Haus nach dem anderen ist damals wohl versunken. Und mit den Häusern auch viele Menschen. Zuletzt ist die Kirche untergegangen, die die ganze Zeit noch Alarm geläutet hatte. Alles in einer einzigen schicksalhaften Nacht. Man hört manchmal heute noch die Glocke der versunkenen Kirche läuten. Und sieht die Menschen, die damals ums Leben gekommen sind. Also die Geister von ihnen. Überall hier an der nördlichen Küste. Aber nur um den Vollmond herum. Naja, so wie heute Nacht halt. Und auch nur, wenn man dran glaubt!“ Er zwinkerte mir verschwörerisch zu.

„Hast du sie schonmal gesehen?“ fragte Sophie.

„Ja, ein paarmal. Hab mich aber nicht näher hin getraut. Sie laufen dann mit ihren Öllampen in der Hand am Strand herum und suchen den Weg nach Hause, suchen ihre Häuser. Manchmal kommen sie bis an unser Dorf heran. Sie sind ganz nass, denn sie kommen ja aus dem Meer. Und man hört dann auch die Geisterglocke, irgendwo da draußen über dem Wasser. Ist ganz schön unheimlich.“

„Ich kann auch Geister sehen“, sagte Sophie.

„Echt? Toll. Und du, Paul, du auch?“

„Nee, ich nicht. Naja, Nervgeister kann ich sehen, so wie dich.“

Tommy lachte abermals.

„Na gut, deine Nachricht ist angekommen. Ich bin dann mal weg!“

Mit diesen Worten verneigte sich Tommy vor uns, gab Sophie einen Handkuss, umarmte mich zum Abschied und verschwand in der Dunkelheit.

„Mann, das war ja skurril“, sagte ich.

„Ja. Und nicht gerade höflich.“ Sophie hatte die Stirn in Falten gelegt.

„Find ich auch.“

„Paul, ich rede von dir. Du warst ganz schön unhöflich!“ Die Arme in die Hüfte gestemmt versuchte Sophie, ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen.

„Der hat dich angebaggert!“ hab ich mich verteidigt.

„Meinst du?“ fragte Sophie mit einem Unterton, den ich nicht deuten konnte.

„Ja, klar hat er das.“

„Ok, wenn du meinst… Und das hat dich eifersüchtig gemacht?“ Ein Grinsen auf ihrem Gesicht.

„Ja!“ sagte ich. „Äh, nein, also… vielleicht!“ Ich musste auch grinsen.

Sophie lachte leise.

„Ich nehm das mal als Kompliment. Aber du kannst trotzdem nett zu ihm sein. Ich habe nämlich kein Interesse an ihm!“ Sie stieß mich in die Seite. Ich musste lachen.

„Na gut. Will ich auch hoffen. Der würde dir sicher ziemlich schnell ziemlich langweilig werden.“

„Hmm, das glaub ich jetzt allerdings nicht…“ War da schon wieder ein Grinsen?

„Wie meinst du denn das schon wieder?“ brauste ich auf.

„Paul“, sagte Sophie. „Ich ärger dich nur!“

„Na gut. Weiß ich ja. Denk ich.“

Der Zirkus war tatsächlich schon in tiefen Schlaf versunken. Wir konnten die schummrige Nachtbeleuchtung schon sehen. Es war gar nicht mehr weit. Ich überlegte, ob ich noch einmal all meinen Mut zusammen nehmen sollte, um Sophie nach „uns“ zu fragen. Doch da hörten wir sie. Die Glocke.

„Paul, hörst du das?“ Sophie hatte mich am Arm gepackt.

„Oh, scheiße, das ist die Glocke der untergegangenen Kirche…“ Mir war ziemlich flau in der Magengegend.

„Komm schon, Paul, wir gehen näher zum Wasser, vielleicht sehen wir die Geister!“ Sophie war begeistert. Im wahrsten Sinne des Wortes.

„Sophie, spinnst du? Nachher tun die uns was!“

„Geister können dir keinen Schaden zufügen, das hab ich dir schon oft gesagt!“

„Und ich hab dir schon oft gesagt, dass das eine unbestätigte Theorie ist! Weil keiner jemals je Geister gesehen hat!“

„Doch, ich. Das hab ich dir auch schon oft gesagt!“

„Ich weiß. Und ich hab dir schon oft gesagt, dass ich glaube, dass dir deine Sinne einen Streich gespielt haben oder du zu tief die Luft deiner Eltern eingeatmet hast!“

Sophie lachte leise. Diese Diskussion hatten wir schon oft geführt.

„Ich kann aber keine Lichter sehen“, sagte ich und zog Sophie vom Strand weg Richtung Zirkusgelände.

„Ja, schade… Aber der Mond ist auch noch nicht ganz voll. Vielleicht kommen sie morgen Nacht.“

„Dann müssen wir morgen Nacht wieder herkommen“, hörte ich mich sagen und begriff den Fehler im selben Augenblick.

„Oh, ja, machen wir das? Ich bin ja so gespannt!“ Für Sophie stand der Plan also fest.

Ich träumte in dieser Nacht, wie ein oberkörperfreier Tommy in Zeitlupe aus einem dunklen Meer emporstieg und sowohl mit einer Laterne als auch mit seinen nassen Haaren wedelte und Sophie in einem weißen Kleid, das im Wind flatterte – in Zeitlupe – auf ihn zu schwebte. Ich sah tatenlos zu und spürte, wie mir eine Ladung Wasser ins Gesicht geschleudert wurde. Eine Ladung muffiges Wasser, das mich zu lecken begann. Als ich meine Augen aufschlug hechelte mich Kalle an. Die Sonne wollte gerade aufgehen, der Zirkus erwachte in den frühen Morgenstunden zum Leben, zumindest waren schon einige Frühaufsteher in der winterlichen Morgenstimmung unterwegs. Ich verdrängte die Erinnerung an meinen Traum. Sophie lag friedlich schlafend neben mir. Morgens bevorzugt Kalle es, mich zu wecken und Sophie schlafen zu lassen. Ich bin eher der Morgenmensch. Und ich mache ihm ja schließlich auch meistens das Frühstück. Das tat ich – und nachdem er seinen Napf gründlich mehrfach ausgeschleckt hatte, ging ich mit ihm nach draußen, dass er sich in den noch vom Raureif überzogenen Dünengräsern erleichtern konnte. Für mich sprangen ein paar wirklich tolle Aufnahmen mit der Kamera dabei heraus – „Morgenzauber in der Unendlichkeit“ könnte ich sie nennen… Kalles Terrierfreundin war auch schon wach. Und wartete auf ihn. Hier war wohl alles möglich. Das mussten diese Schwingungen sein, von denen hier alle gern redeten – oder die süßlichen Dämpfe.

Der Tag verlief ereignislos im Rahmen seiner Möglichkeiten. Dass sich der Feuerkünstler beim Feuerspucken heftig den Mund verbrannt hat, weil er in seinem Zustand das Lampenöl mit dem Brennspiritus verwechselt hat nehmen wir einfach mal als Standard hin. Wenn mich nicht alles täuscht, war er auch einer der Stammgäste am Saftstand und so wunderte mich der Zwischenfall nicht sonderlich. Die Flamme war auf jeden Fall beeindruckend. Ich habe Fotos davon.

Wir verbrachten den Abend gemütlich in unserem Wagen bei Tee und Keksen. Erst spät, als die meisten schon in ihren Wägen lagen und nur noch vereinzelt Lagerfeuer langsam herunterbrannten, um dann in einem pulsierenden Glühen zu erlöschen, machten wir uns – diesmal ohne Kalle – auf, die Geister von Vreeland zu suchen. Wir liefen in die Richtung, in der wir letzte Nacht die Glocke gehört hatten, nach Osten, auf das Dorf zu. Die meisten Lichter des Zirkus waren erloschen, die wenigen Nachtlichter schafften es nicht, bis hierher durchzudringen. Bald umgab uns absolute Dunkelheit. Nur die Sterne leuchteten heller als je zuvor. Und dann schob sich eine der wenigen Wolken zur Seite und der nun fast volle Mond tauchte uns in ein beinah gleisendes Licht. Dazu plätscherten die Wellen unaufhörlich an den Strand, die leichte Brise war schneidend kalt und schmeckte salzig. Ich hielt Sophie im Arm – sie zitterte leicht. Sicherlich nicht nur wegen der Kälte, sondern auch wegen der Spannung. Sie hatte sich ja in den Kopf gesetzt, heute Geister zu sehen.

„Also Glocken höre ich nicht“, sagte ich, um die Anspannung zu brechen.

„Nein. Schade… Meinst du, es passiert noch was heute Nacht?“

In diesem Moment klatschte etwas weiter rechts ins Wasser. Wir drehten unsere Köpfe und im gleichen Augenblick fasste mich eine kalte Hand von hinten ans Genick. Sophie musste es ähnlich ergangen sein, denn sie kreischte ziemlich schrill. Aber nur eine Sekunde, denn dann brach sie in ein leicht hysterisches, aber erleichtertes Lachen aus.

„Mensch, Tommy, du hast uns aber erschreckt!“

Tommy. Na klar. Wer auch sonst wäre in der Lage gewesen, diesen Abend zu ruinieren. Aber es war ja Wochenende wie mir auffiel und da hatte er nichts anderes zu tun, wie wir die Nacht zuvor gelernt hatten. Da stand er also mit seiner großen Taschenlampe in der Hand, die er zum Glück nur auf den Boden gerichtet hielt.

Ich nickte ihm zu: „Hey. Du auch hier?“

Er überlegte, aber offenbar kam ihm keine geeignete Antwort in den Sinn. Deshalb zuckte er nur mit den Schultern und grinste mich an. Etwas zu lange für meinen Geschmack. Zum Glück wandte er sich wieder ab und fragte: „Habt ihr das von gestern Nacht gehört?“

„Was meinst du?“ fragte Sophie.

„Der Einbruch in der Kirche.“

„Die Kirche im Dorf?“

„Na klar, welche denn sonst?!“

Die Frage blieb unbeantwortet.

„Was ist denn mit eurer Kirche?“ Ich bemühte mich, höflich interessiert zu klingen. Es gelang mäßig.

„Jemand ist dort eingebrochen. Aber geklaut haben sie nichts. Dazu waren sie zu dumm“, er lachte laut auf.

„Zu dumm? Wie meinst du denn das?“ Sophies Interesse klang echt. Wahrscheinlich war es das auch.

„Sie haben die Schalter im Schaltschrank verwechselt und die Glocke angeschaltet, als sie Licht machen wollten… Deshalb hat es letzte Nacht im Dorf geläutet!“

Sophie blickte zu mir herüber. Es dämmerte uns im gleichen Augenblick. Keine Geisterglocke letzte Nacht. Ich atmete erleichtert aus. Sophie sah enttäuscht aus.

„Der Küster ist dann schnell rübergegangen und hat sie wieder ausgemacht. Er hat zwei Gestalten wegrennen sehen, aber niemanden erkannt.“

„Kommt das häufig vor? Einbrüche auf dieser einsamen Insel?“ Dieses Mal war auch mein Interesse echt. Das war schon ein merkwürdiges Ereignis.

„Nein. Eigentlich nie. Deshalb glauben einige auch… Naja… Dass es jemand von euch war…“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Von uns?“ fragten wir gleichzeitig.

„Naja, vom Zirkus. So viele Leute sind sonst nie hier auf der Insel. Und ihr seid schon ein bunter Haufen.“

„Also, da kann ich dich beruhigen“, ergriff ich Partei für die mir größtenteils unbekannten Menschen. „Einbrecher sind die hier nicht. Die sind verrückt und so. Aber die übertreten keine Gesetze. Außer vielleicht das Betäubungsmittelgesetz. Aber das sollte euch hier ja nicht so stören.“ Ich lachte leise über meinen Witz.

„Naja, wenn du meinst“, sagte Tommy. „Aber vielleicht sind ja nicht alle so friedlich wie sie vorgeben.“

Die Art, wie er das sagte, machte nicht nur mich stutzig.

„Wie meinst du das?“ fragte Sophie.

„Ach, nichts. Aber ihr könnt doch unmöglich jeden einzelnen kennen. Und dieser reiche Kerl, der das ganze veranstaltet. Ein bisschen komisch ist der schon drauf, wenn ihr mich fragt…“

„Woher kennst du denn Passepartout?“ Sophie klang erstaunt.

„Meine Eltern haben eine kleine Pension im Dorf. Eigentlich für Touristen, aber um diese Zeit sind noch keine da. Der reiche Typ – dieser Passeltuut oder wie auch immer – ist schon seit Wochen hier und hat in unserer Pension gewohnt und das alles hier organisiert.“

„Oh, das hatte ich mich schon die ganze Zeit gefragt – wie hat er denn all die Sachen hier her gekriegt? Mit dem Schiff oder mit dem Hubschrauber?“ fragte ich, dieses Mal wirklich interessiert.

„Paul!“ wurde ich von Sophie getadelt. „Darum geht es doch jetzt gar nicht… Was war denn mit Passe-par-tout (sie sprach den Namen ganz deutlich und langsam), als er bei euch wohnte?“

„Ach… Nicht so wichtig…“ Tommy hatte es sich wohl anders überlegt. Er verfiel in nachdenkliches Schweigen.

„Aber warum hätte er in eure Kirche einbrechen sollen? Um wertvolle Reliquien zu stehlen?“ fragte Sophie sarkastisch.

„Naja, viel zu holen gibt’s da wirklich nicht. Da hast du recht. Außer vielleicht, in den unterirdischen Gängen gibt es einen geheimen Schatz!“

„Unterirdische Gänge?“ fragten Sophie und ich wie aus einem Munde.

„Ach, auch nicht so wichtig. Man hat alte Gänge unter der Kirche entdeckt. Von wann sie sind, welchen Zweck sie hatten und wohin sie führen, das weiß man noch nicht. Jetzt müssen sie erst einmal irgendwo Geld herkriegen, um die Ausgrabungen weiter voran zu bringen. Die Tunnel werden vielleicht in ein, zwei Jahren als neue Touristenattraktion zu besichtigen sein. Momentan ist dort aber einfach nur dunkel und kalt. Jedenfalls – die Dorfbewohner sind seit letzter Nacht auf der Hut. Sie schließen jetzt ihre Haustüren ab. Das haben sie sonst nie getan. Ich hoffe, es bleibt heute Nacht ruhig.“

„Davon gehe ich aus“, sagte Sophie überzeugt.

„Und wir in unser Zelt!“ ergänzte ich und zog Sophie weg. Sie wehrte sich nicht.

„Hey“, rief Tommy uns hinterher. „Kommt nächste Nacht besser nicht an den Strand. Es gibt Nebel. Und bei Nebel kommen die Geister besonders gerne.“

„Danke für die Warnung“, rief Sophie ohne sich umzudrehen. Wir hatten unseren Zirkuswagen bald erreicht. Kalle, den wir heute ja ausnahmsweise mal zurück gelassen hatten, hob nur kurz müde den Kopf und sein Blick schien zu sagen: „Na, kommt ihr auch endlich mal heim? Macht das Licht aus, wenn ihr schlafen geht.“

 „Du willst was?“ fragte ich entgeistert am nächsten Abend.

„Ich will später zum Strand gehen.“

„Aber es gibt Nebel. Und bei Nebel kommen die Geister!“

„Du glaubst doch in Wirklichkeit gar nicht so richtig an Geister. Oder etwa doch?“

Tja, das war clever. Entweder zugeben, dass ich Angst vor Geistern habe oder mit zum Strand gehen. Ich ging natürlich mit zum Strand und nahm die Angst klammheimlich mit. Tatsächlich kam der Nebel sehr schnell. Gut, dass wir Kalle wieder im Wagen gelassen hatten, wir hätten ihn nicht mehr gesehen, wenn er sich weiter als zwei, drei Meter entfernt hätte. In Sekundenschnelle kam der Nebel vom Meer und hüllte uns in einen undurchdringlichen Schleier aus weißer Watte. Die Geräusche wurden dumpfer.

„Finden wir in dem Nebel überhaupt zurück?“ fragte ich so nebensächlich wie möglich.

„Klar!“ War da Unsicherheit in Sophies Stimme? „Wir sehen doch noch die Lichter vom Zirkus durchschimmern. Schau, da hinten!“

„Die Lichter vom Zirkus sind längst auf Nachtmodus. Und außerdem in der Richtung…“

„Und was ist dann das?“ Sophie drehte meinen Kopf zur Seite. Ich sah es auch deutlich. Ein sanfter Schimmer drang durch den Nebel. Er bewegte sich auf und ab. Plötzlich gesellte sich ein weiteres Licht dazu. Ein schabendes Geräusch, dann leise Stimmen. Was sie sprachen war nicht zu verstehen.

„Ist das Niederländisch?“ fragte Sophie.

„Klar. Das sind die Geister, das sind schließlich Holländer!“ Ich versuchte nicht einmal, das Beben in meiner Stimme zu verbergen.

„Komm, wir gehen hin!“

„Sophie, spinnst du?“ Doch da war sie schon losgegangen. Natürlich blieb ich dicht hinter ihr. Wir bewegten uns wie Schlafwandler durch den Nebel auf die Lichter zu.

„Das zweite Licht ist vom Meer gekommen. Die Toten sind aus dem Wasser gestiegen!“ flüsterte ich. „Willst du denen wirklich begegnen?“

„Natürlich, deswegen sind wir doch hier.“

„Ah, ja. Hatte ich kurz vergessen.“

Auf einmal wurde es stockdunkel. Der Schimmer verschwand von einer Sekunde auf die andere. Ich rammte Sophie von hinten.

„Sch.. Vertreib sie nicht!“ zischte sie.

„Nichts liegt mir ferner…“

Einige Sekunden standen wir da und lauschten. Doch weder Stimmen, noch Schritte waren zu hören. Auch die Lichter blieben verschwunden.

„Sollen wir weitergehen?“ fragte ich unsicher.

„Ich denke schon… Aber wohin?“

„Naja, so – in der Richtung. So schräg nach da vorne. Oder?“

„Hmm… Wahrscheinlich…“ Sophie klang nicht überzeugt.

„Komm!“ Ich nahm ihre Hand und zog sie in die Richtung, in der ich den Zirkus vermutete. Wir gingen einige Minuten im Blindflug, dann blieb ich verwundert stehen.

„Sophie, da hinten – da ist wieder ein Lichtschimmer. Siehst du?“

„Ja, ich seh es. Es flackert leicht. Aber es scheint sich nicht zu bewegen. Ist das ein Lagerfeuer?“

„Dann wären wir ja fast da. Lass uns drauf zu gehen!“ Ich zog sie weiter mit mir mit. Der Lichtschimmer schien nicht näherzukommen. Dafür wurde er erschreckend schnell heller. Da hörten wir auch schon die ersten Rufe.

Feuer in der Nacht

 „FEUER! Es brennt!“

Der Zirkus schien langsam zu erwachen. Der Schein von Taschenlampen mischte sich mit dem Flackern eines immer größer werdenden Feuerscheins. Das war nicht gut. Wir beschleunigten unsere Schritte. Je näher wir dem Zirkus kamen, desto lichter wurde der Nebel. Wir konnten Umrisse hinter dem Bauzaun erkennen. Die Wagen. Dazwischen schemenhafte Gestalten, die sich in chaotischen Mustern bewegten und flackernde Schatten warfen.

„Es riecht nach verbranntem Brot“, sagte Sophie.

„Der Bäckerstand brennt!“ rief ich. „Sie versuchen, ihn zu löschen! Gehst du zu unserem Wagen und schaust nach Kalle? Ich versuch, hier zu helfen!“

Die Menschen versuchten, mit Plastikkanistern bewaffnet Wasser in die Flammen zu schleudern. Einige waren gedanklich schon einen Schritt weiter und füllten zuerst Eimer, deren Inhalt sich zielsicherer und höher dosiert Richtung Brandherd schütten ließ. Jemand hatte einen Schlauch aufgegabelt und wo auch immer angeschlossen, vielleicht an einem der Imbisswagen. Aber auch dessen Output war mehr ein Rinnsal als ein Wolkenbruch.

„Gibt es hier keine Feuerlöscher?“ rief ich. „Ich mein, das wird doch irgendein TÜV hier abgenommen haben im Vorfeld, oder?“

Das Feuer hatte zum Glück noch nicht auf andere Zelte oder Wagen übergegriffen. Mit dem Wasser aus den Eimern gelang es, den Brand auf die Bäckerei zu begrenzen. Doch noch immer schlugen aus allen Seiten Flammen in die Nacht.

Plötzlich erschien ein großer Schatten auf dem Dach des benachbarten Wagens, der sich relativ schnell als Tommy entpuppte, welcher in Windeseile einen Feuerlöscher entsicherte und große Mengen Schaum stoßweise in die Flammen schoss.

„Wow, Tommy, das ist ja großartig!“ hörte ich Sophie rufen. Sie kam gerade mit Kalle im Schlepptau zurück. „Schau Paul, die Flammen werden schon kleiner.“

Ja, das wurden sie. Langsam, aber sicher. Inzwischen hatte noch jemand anderes einen Feuerlöscher aufgegabelt und unterstützte den Kampf gegen das Feuer vom Boden aus. Als es nur noch aus dem Wagen qualmte, aber keine Flammen mehr zu sehen waren, sah ich zu Tommy hoch, der noch immer auf dem Wagendach stand. Er blickte verunsichert und schockiert ins Leere.

„Alles in Ordnung, Superman?“ Er schien mich kaum zu hören.

„Das hab ich nicht gewusst… Ich muss los!“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. Dann gab er sich einen Ruck und rannte los. Wenige Sekunden später war er zwischen den Wagen und den immer noch chaotisch umherlaufenden Menschen verschwunden.

„Das war ja merkwürdig.“ Sophie war an mich herangetreten.

Wir hatten keine Zeit, uns in diesem Moment weiter darüber Gedanken zu machen. Denn ein schriller Schrei ertönte: „Meine Tochter! Sie haben meine Tochter!“ Passepartout kam wild mit den Armen wedelnd über das Gelände gelaufen. „Sie haben meine Tochter entführt!“ Schnell hatte sich eine Menschentraube um ihn versammelt und schwer atmend erzählte Passepartout, dass während des Tumults zwei schwarz gekleidete und vermummte Gestalten in seinen Wagen gestürzt waren, als er und seine Tochter sich gerade Jacken und Schuhe übergezogen hatten. Sie hatten ihn skrupellos zu Boden gestoßen und seine Tochter einfach mitgenommen. Nachdem er sich aufgerappelt und es aus dem Wagen geschafft hatte, waren sie bereits wie vom Erdboden verschwunden gewesen.

Nun muss man wissen, dass die Menschen auf diesem Festival sicherlich herzensgut, aber in Krisensituationen zu nichts zu gebrauchen waren. Weder taktisch noch offensiv. Ein Teil der Menschen hatte sich ohne erkennbare Ordnung in alle Himmelsrichtungen zerstreut und sich auf die Suche nach den Entführern gemacht, die meisten von ihnen Richtung Dorf, mühsam durch den Sand stapfend. Während unter den verbliebenen Leuten noch beratschlagt wurde, was nun am besten zu unternehmen sei – schamanische Tänze, Rauchlesen oder Pendeln – hatte Sophie mich längst am Handgelenk gepackt und mich in Richtung Strand mitgezogen.

„Sie sind garantiert mit einem Boot abgehauen. Den ganzen Weg zu Fuß durch die Dünen ins Dorf mit einem entführten Kind – das wäre viel zu mühsam!“ Das war zumindest Sophies Theorie. Kalle war mit uns mitgekommen und bestätigte die Theorie mit einem überzeugten Bellen.

Der Strand lag im Dunkeln. Keine Lichter zu sehen. Weder an Land noch zu Wasser. Wir waren wohl schon ein paar Minuten zu spät dran.

„Kommt mit, mein Boot liegt weiter da vorne!“ Tommy war mal wieder aus dem Nichts aufgetaucht. Er schien wieder Herr seiner Sinne zu sein.

„Haben sie wirklich seine Tochter entführt?“ fragte er.

„Wen meinst du mit sie, Tommy? Weißt du etwa, wer dahinter steckt?“ Sophie konnte auch rennend Fragen stellen.

„Ja, denke schon, ich hab ihnen ja nun leider dabei geholfen…“

Sophie blieb erstaunt stehen. „Was hast du?“

Tommy drehte sich um. Er suchte nach Worten. „Ich hab doch nicht gewusst, was sie vorhaben, sie wollten ihm doch nur eine Lektion verpassen, dem dicken Idioten!“

„Tommy, ich glaub, du musst uns das etwas ausführlicher erklären.“ Da waren die Hände wieder in die Hüften gestemmt. Tommy schaute hilfesuchend zu mir. Ich gab ihm mit einem stummen Blick zu verstehen: „Tja, da kann ich dir auch nicht helfen, Bruder, da musst du jetzt alleine durch.“

„Ok, im Boot. Wir laufen zum Boot und fahren an der Küste entlang zum Dorf und ich erkläre euch alles, aber wir dürfen nicht so viel Zeit verlieren!“

Während Tommy mit kräftigen routinierten Zügen das Boot am Ufer entlang ruderte, versuchte er, die Ereignisse der letzten Wochen und Tage zusammenzufassen. Passepartout war wohl nicht nur ihm, sondern auch den beiden Brüdern Freek und Jorik negativ aufgefallen. Die zwei sind wohl sowas wie die Allroundhandwerker des Dorfes. Sie wurden von Passepartout als ortsansässige Gehilfen engagiert, um den ganzen Aufbau des Geländes zu koordinieren und zu überwachen. Er hat sie dabei aber die ganze Zeit ziemlich schikaniert und beleidigt. Statt Gewändern hatte er Anzug und Krawatte getragen, seine wenigen Haare mit Pomade ordentlich an den Kopf geklebt und die Menschen herumkommandiert wo es nur ging. Und bezahlt hatte er einen Hungerlohn, obwohl er nicht müde geworden war, mit seinem Reichtum zu prahlen. Als er dann auch noch mit der Bezahlung in Verzug geraten war, hatte es Freek und Jorik gereicht und sie hatten den Job hingeschmissen. Danach hatten sie dann aber blöderweise geplant, es Passepartout heim zu zahlen und ihm mal so richtig eine Lektion zu erteilen. Als Geister der versunkenen Dorfbewohner wollten sie in seinen Wagen eindringen und ordentlich Radau machen und ein paar unheimliche Flüche aussprechen. Tommy hatten sie überredet, ihnen vom Strand aus den richtigen Platz zum Anlegen mit dem Boot per Lichtsignal anzuzeigen. Wenn man in der Nacht ohne technisches Gerät, vor allem bei Nebel, auf dem Meer an der Küste entlang fährt, sieht nämlich an der unbewohnten Küste alles ziemlich gleich aus und man verliert schnell das Gespür für Entfernungen. In den Nächten davor hatte Tommy sich heimlich auf dem Gelände umgeschaut, um Passepartouts Wagen zu entdecken und den kürzesten Weg zum Strand zurück als Fluchtweg auszuknobeln.

„Du fällst doch dort am wenigsten auf, du könntest glatt einer von denen sein – haben sie gesagt“ erzählte Tommy.

„Und darauf hast du dich eingelassen?“ fragte Sophie empört.

„Naja, sie wollten mich bezahlen und hier passiert doch sonst nichts… Das war schon aufregend, ein bisschen Geheimagent zu spielen…“ Tommy schien verlegen. „Den groben Plan vom Gelände habe ich in der Pension schon heimlich kopieren können – den hatte Passepartout mal im Frühstücksraum liegen lassen. Und so konnte ich den beiden Idioten einen exakten Lageplan liefern. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so blöd sind, ein Kind zu entführen. Hätte ich gewusst, dass da noch ein kleines Mädchen in dem Wagen schläft, hätte ich die Idee auch gar nicht mehr gut gefunden. Ich wusste nichts von dieser Tochter, die ist wohl erst mit den Zirkus-Gästen gekommen. Aber klar, jetzt weiß ich auch, von welchem Geld die beiden mich bezahlen wollten… Vom Lösegeld… Verwenst! Das geht zu weit!“

„Natürlich geht es das!“ Sophie klang immer noch empört. „Viel zu weit! Warum bist du aber heute mit aufs Gelände gekommen? Wolltest du auch beim Erschrecken mitmachen?“

„Nein, sie haben mich eigentlich direkt weggeschickt, als sie mit dem Boot angekommen waren. Das ist nichts für dich, wenn er sich wehrt kann es gefährlich werden. Das waren ihre Worte. Pfff. Als ob ich mich nicht auch wehren könnte. Ich wollte aber doch eigentlich nur sein dummes Gesicht sehen. Also bin ich mit aufs Zirkusgelände geschlichen. Aber beim Wagen von dem Dicken waren sie nicht. Und dann hat es plötzlich gebrannt…“

„Und du hast den Helden mit dem Feuerlöscher gespielt. Wenigstens das hast du einigermaßen drauf.“ Sophie klang sauer. Doch dann fuhr sie etwas versöhnlicher fort: „Ok, wir glauben dir jetzt einfach mal. Dann war es sicher so, dass die beiden Brüder den Brand zur Ablenkung gelegt haben. Und das hat ja auch prima geklappt.“ Sie dachte nach. „Und was hast du jetzt vor?“

„Ich denke, ich weiß, wo sie sie hinbringen.“

„Die Kirche?“ fragte ich, als wir alle drei im nächtlichen Dorf auf dem kleinen Platz vor der Kirche standen.

„Ja, der Einbruch versteht ihr?“ Wir schüttelten die Köpfe.

„Der Einbruch in die Kirche – ich meine, Freek und Jorik sind nicht gerade die schlausten Köpfe. Die verwechseln schonmal den Lichtschalter mit der Glockensicherung. Das ist ihre Handschrift, glaubt mir. Die wollten sich in der Kirche umschauen, oder sogar schon was vorbereiten. Wahrscheinlich waren sie in der Nacht danach nochmal hier, aber ohne per Glocke auf sich aufmerksam zu machen…“

„Die unterirdischen Gänge!“ Sophie hatte messerscharf kombiniert.

„Jazeker! Ja doch!“ sagte Tommy. „Da unten hört dich keiner. Da kann man einiges verstecken. Sicherlich auch einen Menschen!“

„Aber hätte man sie nicht sofort verdächtigt?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nicht, ob Passepartout sich darüber bewusst ist, dass er die Menschen um ihn herum vor den Kopf stößt. Und beim Zirkus haben sie sich schließlich nicht blicken lassen. Da war ja nur ich…“ Tommy klang nachdenklich. „Wollen wir rein gehen?“

Die Seitentür war nicht abgeschlossen. Ob sie sich einen Schlüssel besorgt hatten oder das Schloss geknackt – das konnten wir in der Nacht nicht heraus finden.

„Der Eingang zu den unterirdischen Gängen ist da hinten, runter in die Krypta und dort durch das Loch in der Wand!“ Tommy zeigte mit dem Finger in die Dunkelheit. „Geht schonmal runter, ich hab eine Idee.“

„In die Krypta? Sind da nicht Leichen?“ fragte ich, vielleicht etwas zu panisch. Doch keiner schien mich zu hören.

„Kalle, bist du noch da?“ flüstere Sophie stattdessen, ebenfalls leicht panisch. „Paul, Kalle ist schon wieder verschwunden!“

„Wann hast du ihn denn das letzte Mal gesehen?“ fragte ich zurück.

„Er ist mit uns hier rein gegangen. Kalle, komm zu Frauchen!“

Doch Kalle kam nicht. Dafür kamen plötzlich unheimliche Laute aus der Tiefe unter uns, ein markerschütterndes, gespenstisches Heulen. Und kurz darauf kamen zwei Gestalten hektisch aus der Dunkelheit gestolpert.

„Oh mein Gott, was ist das da unten!“ hörten wir sie fragen. Oder sowas ähnliches. Meine Niederländischkenntnisse sind eher rudimentär ausgeprägt.

In diesem Moment gingen die Lichter in der Kirche an. Und die Glocke begann, zu läuten. Für einen Moment standen wir uns gegenüber – Sophie und ich und die beiden Brüder Freek und Jorik. So richtig schienen sie nicht zu begreifen, was passiert war. Tommy hatte Licht und Glocke eingeschaltet. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis der Küster oder das gesamte Dorf in der Kirche auftauchten. Langsam begannen die Brüder, eben das zu begreifen und sahen sich nervös um. Sie entschieden sich, zu einer weiteren Seitentür gegenüber zu rennen. Doch durch die trat in diesem Moment bereits eine große Gestalt in Form des Küsters herein und versperrte auch diesen Fluchtweg. Und eins muss man ihnen lassen: Sie waren nicht so dumm, sich noch weiter in die Sch… zu reiten, sondern gaben einfach auf.

In diesem Moment tauchte noch jemand anderes in der Kirche auf. Ein schwarz-weißer Hund, der stolz und selbstsicher in die Runde blickte. Denn natürlich war er es gewesen, der die beiden Halunken – ich liebe das Wort „Halunken“ – mit seiner Geisterimitation in die Flucht gejodelt hatte. Echos können in einer dunklen, unterirdischen Krypta nämlich ganz schön angsteinflößend sein. Doch die beiden Brüder waren, wie sich herausstellte, zu diesem Zeitpunkt bereits alleine, das entführte Mädchen schon nicht mehr bei Ihnen gewesen.

Die Farbe der Geister

Tommy, der Küster und die ersten Dorfbewohner diskutierten heftig mit den beiden Schurken – ach, auch so ein schönes Wort. Sie schworen Stein und Bein, dass sich das Mädchen losreißen konnte, nachdem es Freek in die Hand gebissen und Jorik in die Körpermitte getreten hatte. So zumindest deutete ich die Worte und Gesten der beiden. Und dann war das Mädchen in die unterirdischen Gänge weggerannt. Und während die beiden Brüder noch unschlüssig herumgestanden hatten war ihnen dann wohl auch schon der Leibhaftige in akustischer Form erschienen, der sie zur Flucht nach vorne motiviert hatte. Ihr könnt euch denken, dass sofort alle Anwesenden inklusive uns in den unterirdischen Gängen nach dem Mädchen suchen wollten.

Wir stiegen also alle nacheinander die alte Steintreppe in das unterirdische Gewölbe der Krypta hinunter. Es war nur eine sehr kleine Krypta; ein paar Steinsäulen und ein paar in die Wände gehauene Nischen, das war schon alles. Die Nischen waren wohl für Reliquien von Heiligen vorgesehen, nur dass diese nicht mehr da waren – oder noch nie dagewesen waren. Also die Reliquien, nicht die Nischen. Eigentlich ein spannender, schön-schauriger Ort und vor allem vollkommen unerwartet unter dieser unscheinbaren Dorfkirche mitten im Nirgendwo. Ich müsste da eigentlich irgendwann mal wieder zum Fotografieren hinkommen…

In einer Ecke beim Eingang hatten die beiden Brüder bereits ein paar Dinge für ihr Entführungsopfer bereit gelegt. Da standen einige Flaschen mit Wasser, Chipstüten lagen herum und eine Wolldecke, die sich Sophie sofort schnappte und um ihre Schultern legte. Es war hier unten zwar fast wärmer als draußen, aber wir waren ganz schön durchgefroren.

Aber noch viel spannender als die Krypta selbst war natürlich der Durchbruch in der Wand auf der gegenüberliegenden Seite – dahinter war gerade noch so ein enger, gemauerter Gang auszumachen, der sich bereits nach wenigen Metern in absoluter Schwärze verlor, weil das Licht der Krypta nicht mehr weiter in ihn vordringen konnte. Die Gruppe verständigte sich recht wortkarg. Gut, wir hätten eh nicht viel verstanden. Wir gingen zunächst alle hintereinander mit Handylicht und Taschenlampen bewaffnet einige Schritte hinein und gelangten sehr bald an die erste Abzweigung. Unsere kleine Abenteurergruppe teilte sich auf. Nach einer weiteren Abzweigung und einer erneuten Aufteilung waren Sophie und ich alleine unterwegs – doch bereits nach wenigen Metern war unsere Erkundungstour zu Ende. Erdreich hatte sich hart wie Beton zu einer undurchdringlichen Wand aufgetürmt. Wir kehrten um. Und stießen bald schon auf die anderen, denen es wohl ähnlich ergangen sein musste. Denn so groß die unterirdische Anlage auch mal gewesen war – es waren aktuell nur noch wenige Meter in allen Richtungen begehbar. Überall stieß man früher oder später auf eingestürztes Mauerwerk oder eingebrochenes Erdreich. Die Freilegung der alten Tunnel war also wirklich noch nicht allzu weit fortgeschritten. Trotzdem fehlte jede Spur von dem verschwundenen Mädchen.

Wir versammelten uns nach und nach etwas ratlos auf dem Kirchplatz. Die frische Nachtluft tat uns trotz ihrer schneidenden Kälte gut. Und wie wir da so standen, kam auf einmal ein schwaches, trübes Licht auf uns zugeschwankt. Es kam aus nördlicher Richtung, vom Meer und der vernebelten Küste her und es schien, als tanze es sacht im Takt einer lautlosen Melodie. Einige Dorfbewohner hatten es bemerkt und sahen mit großen Augen zum Himmel auf, den der Vollmond nun in seiner ganzen Pracht zierte. Einige bekreuzigten sich. Andere murmelten etwas von „Spook“ oder „Geest“… Ja, die Geister von Noord-Vreeland. Jetzt kamen sie wohl endgültig aus dem Wasser.

„Die Geister von Noord-Vreeland“, murmelte ich leise vor mich hin.

„Quatsch!“ Das war ausgerechnet Sophie. Sachen gibt’s… „Das ist ein kleines Mädchen in einer Daunenjacke. Zugegeben – mit einer etwas altertümlichen Laterne in der Hand…“

Sophie hatte recht. Ein kleines Mädchen kam unsicher Richtung Kirchplatz gelaufen. Je näher es kam, desto mehr konnten wir erkennen. Das Mädchen trug wohl nur einen Schlafanzug unter der Jacke und die dicken Schnürstiefel schienen ziemlich nass geworden zu sein. Die Laterne, die es mit ausgestrecktem Arm vor sich hielt, war eine alte und rostige Öllampe. Das Mädchen blieb mit klappernden Zähnen stehen und wusste wohl nicht so recht, wie es jetzt weiter gehen sollte.

Ich denke, den meisten dämmerte zu diesem Zeitpunkt schon, dass es sich um die verschwundene Tochter und nicht um eine Geister-Erscheinung handelte, doch so richtig sicher schien sich keiner zu sein, denn Sophie war die einzige, die sich in Bewegung setzte. Sie ging langsam auf das Mädchen zu, legte ihm die sichergestellte Wolldecke um die Schultern, ging in die Hocke und begann, leise zu sprechen. Ich bin etwas näher geschlichen, hab mich dann aber doch mit respektvollem Abstand im Hintergrund gehalten. Das Gespräch konnte ich dennoch ab dem Moment verfolgen, als das Mädchen auf eine Frage von Sophie hin antwortete:

„Durch den langen Tunnel.“

„Das war aber ganz schön mutig von dir, so alleine“, hörte ich Sophie unsicher sagen.

„Ich war ja gar nicht alleine. Die Frau hat mir doch den Weg gezeigt!“

„Da war eine Frau bei dir?“

„Ja, die war auch unten in dem Tunnel.“

„Und was… was hat sie denn gesagt?“

„Die hat gar nichts gesagt, die hat mich nur zu sich gewunken. Die sah ganz, ganz lieb aus und hat gelächelt. Auch wenn sie ein bisschen blass war. Und nass. Und so komische Kleider anhatte…“

Inzwischen trauten sich auch die anderen näher heran. Ein älterer Herr aus dem Dorf hatte eine Wärmflasche mitgebracht und reichte sie dem Mädchen.

„Du bist auch ein bisschen nass geworden, stimmt’s?“ fragte Sophie, um das Gespräch wieder aufzunehmen.

„Ja, wir sind ja am Strand rausgekommen, im Wasser.“

„Im Meer?“

„Hihi“, das Mädchen kicherte ein bisschen. „Klar im Meer. Sonst gibt’s da ja kein Wasser. Wir sind plötzlich zwischen den großen Felsen da hinten im Meer gestanden!“

Die ersten Zirkusgäste hatten es jetzt endlich geschafft, den mühsamen Weg zu Fuß ins Dorf zurückzulegen. Das Licht ihrer Taschenlampen tanzte durch die Nacht langsam auf den Kirchplatz zu.

 „Und die Laterne hast du von der Frau bekommen?“

„Ja, sie ist mit mir ein Stück im flachen Wasser zwischen den Felsen entlang gegangen, bis wir wieder an den Sandstrand gekommen sind und ich schon die Straßenlampen im Dorf sehen konnte – da ist sie dann stehen geblieben, hat mir die Laterne gegeben und zum Abschied gewunken. Ja und dann ist sie einfach ins Meer gegangen!“

Sophie konnte keine weiteren Fragen mehr stellen, denn in diesem Moment kam ein schnaufender Passepartout angewankt und stürzte auf seine Tochter zu.

„Runa, mein Täubchen, da bist du ja! Ist dir nichts passiert?!“

„Alles in Ordnung, Papi, die Frau hat mich gerettet…“

Passepartout blickte Sophie an und begann, ihre Hand zu schütteln und sich stürmisch zu bedanken.

„Nein, sie meint nicht mich, da war…“ Weiter kam Sophie nicht. Denn nun hatte Passepartout die beiden betröppelten Brüder entdeckt, ließ Sophie – und seine Tochter – stehen und ging schimpfend und schwer atmend auf Freek und Jorik los. Eins muss man dem merkwürdigen Typ lassen: Sein Niederländisch ist ziemlich gut. Zumindest schien die Schimpftirade ihre Wirkung auf die beiden Übeltäter nicht zu verfehlen. Sie duckten sich wie unter Faustschlägen weg. Immer mehr Menschen kamen. Aus den Dünen und aus den Häusern. Eine robuste ältere Dame mit altmodischer Arzttasche kniete inzwischen bei Runa und kümmerte sich um sie. Sophie und ich nutzten die Gelegenheit und verdrückten uns in Richtung Strand. Kalle folgte uns schwanzwedelnd. Von Tommy war weit und breit nichts mehr zu sehen.

„Sag mal Sophie“, begann ich mutig. Um dann weniger mutig zu fragen: „Wie… äh… sehen Geister eigentlich aus?“

„Regenbogenfarben!“ sagte sie in einer Selbstverständlichkeit, mit der man normalerweise jemandem die aktuelle Uhrzeit übermittelt oder den Wetterbericht. „Regenbogenfarben sind die Geister.“ Und da begann es zu schneien wie in einer billigen Netflix-Weihnachts-Schmonzette.

Wer denkt, dass der Zirkus der Visionen jetzt vorbei war, der irrt sich gewaltig. Irgendwie ging der zauberhafte Teil jetzt erst richtig los. Über Nacht hatte es tatsächlich weiter geschneit und eine feine Schicht weißen Puders über die Zirkus-Traum-Welt gelegt, was vor allem am Abend zusammen mit den Lichterketten eine kaum auszuhaltende Dimension des Kitsches erzeugte, die ich natürlich mit der Kamera festhalten musste. Eine dieser Aufnahmen ziert immer noch meinen Desktophintergrund. Sophie fühlte sich auch inspiriert und saß das erste Mal seit langem wieder mal an einer Bleistiftzeichnung. In der gemütlichen Wärme unseres Zirkuswagens bei einer Tasse Tee gingen wir immer wieder die Ereignisse der Brandnacht und des Tages danach durch. Die beiden Brüder waren am nächsten Morgen verhaftet worden, nachdem die Polizei auf dem Festland verständigt worden und mit ihrem Polizeiboot zur Insel gekommen war. In der Nacht waren sie vom Küster eigenhändig in dessen Haus sicher verwahrt und bewacht worden. Ich weiß nicht genau, was er mit ihnen gemacht hat – aber er war wohl auf solche Fälle vorbereitet, wie man sich erzählt…

Und was die Sache mit der Geisterfrau und dem Fluchtweg aus einem komplett verschütteten Tunnelsystem betrifft: Nun, ich vermeide es, allzu oft darüber nachzudenken. Für Sophie ist die Sache natürlich klar. Wenn ihr sie fragen würdet, würde sie etwas von Dimensionen und Zeitebenen erzählen. Und zwar so überzeugend, dass ihr hinterher tatsächlich in Betracht ziehen würdet, dass diese Dinge um uns und unsere sichtbare Welt herum existieren. Und es eben manchmal in bestimmten Momenten dazu kommt, dass die Grenzen dieser beiden Welten ein kleines bisschen ineinander fließen. Ich habe mal eine ähnliche Geschichte in einem Männermagazin gelesen, da ist einem Reporter in Irland etwas Ähnliches passiert. Bis vor kurzem hatte ich noch geglaubt, dass er sich das Ganze nur ausgedacht hat – jetzt bin ich mir da aber nicht mehr so sicher.

Tommy hatte sich ja in der Nacht vor der Kirche klammheimlich verdünnisiert und sich kein weiteres Mal mehr blicken lassen. Ich denke, er hatte Angst vor den Konsequenzen seines Handelns. Wir haben nichts verraten – und wir hoffen, dass Freek und Jorik auch ihre Klappen gehalten haben.

„Weißt du, Sophie, so verkehrt war Tommy eigentlich gar nicht“, sagte ich in die nachdenkliche Stille hinein.

„Ach was. Da würde er sich aber freuen, das zu hören!“

„Wie meinst du denn das?“

„Naja“, sagte Sophie mit einem nicht zu deutenden Grinsen. „Ich denke, er fand dich auch nicht verkehrt.“

„Hä?“

„Paul, er hat dich die ganze Zeit angeschmachtet – hast du das nicht gemerkt?“

Nein, das hatte ich nicht. Ich war ja die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, eifersüchtig zu sein. Außerdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass, nun ja, dass mich Jungs attraktiv finden könnten. Aber ein bisschen schmeichelhaft finde ich das ja schon, um ehrlich zu sein.

„Sophie, ich muss dich doch die ganze Zeit noch was fragen.“ Sie sah mich erwartungsvoll an. „Ja, was denn?“

„Ich wollte mal wissen…“ Ich konnte mir den Rest der Frage sparen, denn Sophie hat sich in dem Moment zu mir rüber gebeugt und mich geküsst. Einfach so, als wäre es das normalste auf der Welt. Und es war ein richtiger Kuss. Also, ihr wisst schon… Auch wenn ich mich nicht mehr so richtig an den Moment erinnere – ich wusste augenblicklich eines ganz sicher: Das würden die besten Weihnachtsferien aller Zeiten werden! Und ich dachte sogar darüber nach, das mit dem Haare-Schwarz-Färben einfach mal sein zu lassen. Tja, Endorphine halt. Teufelszeug. Oder besser: Hexenwerk!

Zur Abschiedsvorstellung im Zirkus der Visionen hatte Passepartout auch die Bewohner des Dorfes eingeladen. Die Artisten gaben noch einmal alles. Nur der Zauberer, ambitioniert dargestellt vom Feuerspucker, war wohl etwas unachtsam und löste das Abschlussfeuerwerk etwas zu früh aus. Beeindruckend war es aber allemal. Und so ging der Zirkus der Visionen mit einem Knalleffekt zu Ende.

Eine alte Rechnung

„Oh Mann, da habt ihr aber echt was erlebt, Leute!“ Herbert fuhr wieder vergnügt mit uns über die Autobahn in Richtung Heimat. „Passepartout eine Lektion zu verpassen war ja grundsätzlich eine gute Idee von denen, das kann ich keinem verübeln!“

Sophie schielte mit gerunzelter Stirn zu mir auf die Rückbank. Ich zuckte mit den Schultern. Mir war Herberts gute Laune ja von vornherein ein bisschen merkwürdig vorgekommen. Was soll’s, dachte ich mir, räusperte mich und begann ganz vorsichtig nachzufragen:

„Ja, äh, Herr Brüggemann, das wollte ich Sie die ganze Zeit schon fragen…“

„Du sollst doch Herbert zu mir sagen, Paule, das hab ich dir doch schon hundertmal gesagt. Herr Brüggemann ist mein Vater“, er lachte nervös. „Sonst fühl ich mich auch viel älter als ich wirklich bin. Gefühlt bin ich ja immer noch kurz nach meiner Diplomarbeit. Manchmal träume ich davon, dass ich den Abgabetermin verpasst habe und noch 20 Seiten schreiben muss und überhaupt keine Ahnung habe, über was!“ Er lachte wieder hektisch.

„Ok, Herbert, was ich mal fragen wollte“, setzte ich von neuem an. „Sie scheinen, du, du scheinst sehr erleichtert gewesen zu sein, dass du nicht mit… Claudia… zum Zirkus der Visionen gehen musstest. Hat das einen Grund?“

„Oh, das hat man, also das habt ihr? Das hab ich dann wohl nicht so gut versteckt, oder?“

Wir schüttelten stumm die Köpfe. Er atmete tief durch.

„Gut, also, aber behaltet das für euch, ok? Das ist so, dass ich dem Pascal nicht traue.“

„Wer ist Pascal?“ fragte Sophie.

„Ach so, ja, Pascal Patrick Thumberger. Pas-Pa-Thu. Einfallsreich, oder? Passepartout, dem traue ich nicht. Also keine Sorge, der ist schon harmlos grundsätzlich, also wegen eurer Sicherheit da war nichts, also kein Grund zur… ja… Also ich denke, ich vermute, ich habe berechtigten Grund zur Annahme, dass Passepartout sein Geld mit ganz bestimmten Geschäftspraktiken gemacht hat. Also der ist ja eigentlich gar kein alternativ Interessierter, also kein Naturmensch, kein Schamane. Wisst ihr wie ich meine? Der ist ja, der hat früher, da hat der Immobilien verkauft, dann hat er sich als Unternehmensberater ein bisschen Startkapital angehäuft und da hat er dann angefangen in Ideen zu investieren, die Gewinn versprechend waren und dann ist er, er hat jemanden kennen- und auch ein bisschen lieben gelernt, der, die ihn dann auf die Esoterikgemeinde aufmerksam gemacht hat. Und auf den sehr lukrativen Markt mit einer recht zahlungskräftigen und –freudigen Klientel. Naja, deine Mutter wollte damals ja nicht auf mich hören, sie glaubt ja bis heute noch an seine guten Absichten…“ Er schwieg, weil er wahrscheinlich ein bisschen mehr als geplant preisgegeben hatte. Sophie war zwischen amüsiert und fassungslos hin- und hergerissen.

„Mama hatte was mit diesem merkwürdigen Typen Passepartout? Ihhh, der ist doch überhaupt nicht, der ist doch voll… bäh…“

„Ja, naja, weißt du, der war ja nicht schon immer, der war schon mal ganz gut, also, in Schuss.“ Er räusperte sich.

„Und du kanntest sie da auch schon? Papa, das ist ja voll spannend – hast du sie ihm dann ausgespannt, ja?“

„Ja, naja“, ein Lächeln stahl sich auf Herberts Gesicht und sein Oberkörper straffte sich. „Das kann man wohl so sagen, ja, das hab ich gemacht!“ Sophie boxte ihm liebevoll auf die Schulter. „Mensch, Papa!“ Mehr sagte sie nicht. Für einen kurzen Moment schwiegen wir. Ich denke, wir hatten alle Bilder im Kopf. Zum Teil verstörende Bilder, zumindest in meinem Fall. Aber mich interessierten noch ein wenig mehr Details.

„Herbert, der Passepartout, der veranstaltet jetzt den Zirkus der Visionen weshalb genau?“

„Ja, also wie gesagt, ich vermute das nur… Er hat halt angefangen in alternative Ideen und Produkte zu investieren und ist dadurch immer reicher, hat immer mehr davon, das hat ganz gut funktioniert damals. Dann hat er parallel angefangen, selber Sachen zu produzieren und zu verkaufen. Und immer mehr Geld zu verdienen. Hat seine Finger in ganz vielen Unternehmen drin. Und um da halt immer am Puls der Zeit, um da keine Trends zu verpassen, da verwendet er alle möglichen Tricks. Du kannst davon ausgehen, dass wenn jetzt, mal angenommen, jemand bei einem Vortrag im Zirkus der Visionen eine Idee vorstellt, dass er die sofort auf Vermarktbarkeit hin prüft, so insgeheim und dann entweder, also entweder steigt er dann ins Geschäft mit ein, macht gleich die Deals vor Ort oder er, das ist auch schon vorgekommen, aber beweis ihm das mal… da klaut er die Idee und produziert schneller als es jeder andere könnte und ist dann der erste auf dem Markt. Kannst davon ausgehen, dass er das, was er beim Zirkus der Visionen drauflegt erst mal steuerlich schön absetzen und dann wieder vielfach rein wirtschaften kann. Ja, da bin ich überzeugt davon! Aber weißt du, das ganze Geld… Was nützt ihm das schon? Das nützt ihm ja gar nix.“

Er lachte wieder leise und ein klein wenig gehässig vor sich hin.

„Er hat inzwischen schon zwei Scheidungen hinter sich, die waren bestimmt ganz schön teuer, da muss er noch einige Ideen klauen, um das wieder rein zu holen, haha!“

Jetzt lachte er richtig. Und irgendwie mussten wir in das Gelächter mit einstimmen. Es war eigentlich gar nicht so lustig, eher ernüchternd. Aber änderte es etwas an unseren Erlebnissen? Eher nicht. Wir hatten eine Traumwelt erlebt, mit Abenteuern und Happy End im Schnee. Konnte es noch weihnachtlicher werden?

„Ich muss mal mit Claudia reden, mir schwebt da ja schon lange so eine Idee vor.“ Jetzt kam Herbert in Fahrt. „Ich würde ja auch gern so ein Ideenfestival veranstalten. Auf der großen Dorfwiese hinten beim Sportplatz, da könnte man das doch, das wäre doch, meint ihr nicht auch?“

„Herbert, das ist eine großartige Idee!“

Ich klopfte ihm von hinten auf die Schultern. Hey, das meinte ich sogar ernst. Mir gefiel die Vorstellung über alle Maßen, wie diese bunte Welt der Paradiesvögel auf die wortkargen Landmenschen von Schlesmühl trifft. Da konnte ja alles passieren! Ich würde mit meiner Kamera bereit stehen und Bilder für die Ewigkeit einfangen. Und vielleicht könnte ich den Organisator ja bei der Bandauswahl beraten. Dann wird vielleicht doch irgendwann noch ein kleines Wacken aus unserem Ort und ich falle nicht mehr so auf. Ach, eine wundervolle Vorstellung. Ein wunderschönes Weihnachtswunder wäre das!

Ein paar Sätze zum Hintergrund: 
Die Insel Vreeland gibt es nicht - aber es gibt eine Insel namens Vlieland. Und diese ist grob sogar genauso aufgeteilt wie mein Vreeland. Das ist natürlich kein Zufall. Das tatsächlich mehrfach überflutete und aufgegebene Dorf West-Vlieland diente mir genauso als Vorlage wie die gesamte Insel - gibt es dort doch tatsächlich eine militärisch genutzte Fläche und Google Earth liefert sogar spannende Fotos von verrosteten Panzern am Strand. Ich musste die Insel in der Geschichte für meine Zwecke nur ein wenig modifizieren - in der Größe und der Aufteilung. Deshalb habe ich sie einfach umbenannt... 
Die Erzählung des Reporters eines Männermagazins, dem eine ähnliche Geistergeschichte widerfahren ist und die Paul gegen Ende erwähnt - na, wer hat es erkannt? Das ist eine meiner ersten geschriebenen Kurzgeschichten dieses Genres namens "Der Organist" und aktuell ist es das älteste Werk, das hier auf dieser Seite veröffentlicht ist. Über 10 Jahre alt...

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