"Aaron Pfundeisen",  Alle Texte,  Geschichten

ALTE GESCHICHTEN Kapitel 2

Die andere Welt

Um dieses zweite Kapitel meines Fortsetzungsromans "Alte Geschichten" zu verstehen, sollte man unbedingt die vorangegangenen Teile "Prolog" und "Kapitel 1" gelesen haben! 

+

Aarons Nackenhaare stellten sich auf, sein Herz schlug rekordverdächtig schnell und sämtliche Muskeln seines Körpers spannten sich unwillkürlich an. Im Angesicht der Gefahr neigt der Mensch dazu, entweder im Schock zu verharren, die Flucht zu ergreifen oder den Kampf aufzunehmen. Einen Moment lang fühlte Aaron sich wie gelähmt und geradezu in seinem Stuhl festgefroren. Dieses Gefühl wich jedoch jäh dem Impuls, sich entschlossen auf den Unbekannten zu stürzen und ihn zur Rede zu stellen. Aaron sprang also mit voller Kraft aus seinem Schreibtischstuhl auf – zumindest versuchte er es. Denn nachdem er seine Knie schmerzhaft an der Schreibtischplatte angestoßen hatte, verlor er das Gleichgewicht und plumpste geradewegs wieder auf die Sitzfläche zurück. Damit hatte sich die Sache mit dem Überraschungsangriff wohl erst einmal erledigt. Zum Glück bemerkte Aaron zeitgleich, dass von dem Unbekannten keine unmittelbare Gefahr auszugehen schien und sein Herzschlag beruhigte sich etwas. Denn sein Gegenüber saß noch immer unbeweglich in seinem Ohrensessel, hatte lediglich den Oberkörper etwas gestrafft und die Finger in die gepolsterten Lehnen gekrallt, wie es schien. Es sah ganz danach aus, als sei auch er kurz davor gewesen, aufzustehen, hätte dann aber gezögert und sich entschieden, weiterhin wachsam und angespannt zu Aaron hinüber zu sehen. Er wartete ab.

Aaron begann nun seinerseits, den nächtlichen Besucher genauer zu betrachten. Es waren nicht die altmodischen Kleider nebst antiker Lockenperücke, die seine Aufmerksamkeit besonders erregten. Wobei das prunkvolle Wams aus schwarzer Seide mit seinem spitzenbesetzten Kragen und den kunstvollen Zierhülsen aus Silber durchaus den Blick des Betrachters auf sich zu ziehen vermochte. Dennoch war es das Gesicht des Mannes, genauer gesagt die Haut in selbigem, die Aaron am meisten faszinierte. Denn diese machte den Eindruck, als könne man glatt durch sie hindurch sehen, zumindest zeitweise. Im nächsten Moment begann sie dann wiederum merkwürdig zu schimmern, wie das Perlmutt einer Tiefseemuschel in bunten Regenbogenfarben. Und wenn man blinzelte, waren all diese optischen Effekte gänzlich verschwunden, nur um Sekunden später erneut aufzuflackern.

„Was zum Teufel soll das denn schon wieder?“ flüsterte Aaron schließlich leise.

Nun gab sich der Unbekannte einen Ruck, erhob sich aus dem Sessel und deutete ein vornehmes Räuspern an, um dann mit einer tiefen Verbeugung und einem leichten britischen Akzent zu verkünden: „Willkommen, mein Herr Pfundeisen. Willkommen in der anderen Welt!“

Etwas an der Stimme und dem Tonfall des Unbekannten ließ Aaron in Gedanken augenblicklich in seine Kindheit zurückkehren, präzise in jene Nacht, an die er erst vor wenigen Tagen hatte denken müssen, als er vom Tod seines Großvaters erfahren hatte.

„Ich kenne deine Stimme“, brachte Aaron überrascht und mit einem Kloß im Hals hervor. Er räusperte sich ebenfalls und fügte dann schon deutlich sicherer hinzu: „Ich habe dich manchmal in der Nacht gehört, wenn du dich mit Großvater unterhalten hast. Aber ich habe dich noch nie gesehen!“

Der Blick des Unbekannten senkte sich und fixierte das Medaillon, das sich nach wie vor schwer und warm an Aarons Brust schmiegte. Aaron griff ganz automatisch mit der Hand danach und umklammerte es schützend. Der Unbekannte blickte erschrocken auf, hob beschwichtigend beide Hände und sagte schnell: „Nein, nein, keine Sorge, ich trachte euch nicht danach. Ich bin nur immer wieder aufs Neue von seiner Macht fasziniert!“

Aaron begann, die Zusammenhänge zu begreifen, wenngleich ihm das Große und Ganze weiter schleierhaft blieb. Mit einer langsamen, fließenden Bewegung hob er das Amulett in die Höhe und zog die Kette über den Kopf. Er legte das Schmuckstück auf die Schreibtischplatte und konnte dabei zusehen, wie sich die Gestalt seines Besuchers wortwörtlich in Luft auflöste, als er die Hand vom Schreibtisch entfernte. Schnell griff Aaron wieder nach dem Medaillon und legte sich die Kette um den Hals. Der silberne Anhänger mit dem geheimnisvollen Stein darin legte sich sanft an seine Brust und der Unbekannte stand wieder deutlich sichtbar vor ihm. Und er schien anerkennend zu nicken, während er Aaron verschmitzt angrinste.

„Diesen Teil habt ihr schnell begriffen, mein Herr. Da wird es wohl ein leichtes sein, euch in die weiteren Geheimnisse einzuführen!“ Er deutete erneut eine vornehme Verbeugung an.

„Es fühlt sich nur nicht wirklich an, als hätte ich irgendetwas begriffen“, erwiderte Aaron halb verzweifelt und halb verwirrt. „Ich kann dich nur sehen, wenn ich das Medaillon trage, schon klar. Aber was hat das zu bedeuten? Wer bist du?“

„Oh, es ist Zeit für die große Vorstellung!“ Der Unbekannte schien sich regelrecht zu freuen, wirkte beinahe aufgeregt. Mit einer theatralischen Geste breitete er die Arme aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. „Erlaubt mir, werter Herr Pfundeisen, euch mit mir bekannt zu machen, mit John Aubrey, dem ersten Klatschreporter in der Geschichte der Menschheit, der aber auch gleichzeitig einen formidablen Historiker und Altertumsforscher abgab, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als er sich vor einem Geiste zu Tode erschreckte und – welch Ironie des Schicksals – seitdem sein Dasein ebenfalls als körperloses Wesen in der Zwischenwelt fristen muss, bis er seine Schulden beglichen und sich die Erlösung der jenseitigen Unendlichkeit verdient hat!“ Er verbeugte sich nun tief, als erwartete er Applaus für seinen bühnenreifen Monolog. Dieser blieb allerdings aus und Aaron erwiderte mit einem kurzen Kopfnicken nur: „Hey, John! Nett, dich kennenzulernen!“ Dann holte er tief Luft und fragte mit leichter Überforderung in der Stimme: „Du wolltest mir gerade schon sagen, dass du ein Geist bist, oder? Der Geist des Antikhofs? Ja? Ist es das, das Geheimnis des Antikhofs Pfundeisen? Dass hier ein Geist herum spukt?“

Der Geist namens John Aubrey runzelte unbehaglich die Stirn. „Ich möchte mich selbst lieber als wandelnde Seele oder gerne auch als suchende Seele bezeichnen. Und ich spuke selbstverständlich nicht herum. Das wäre ja geradezu ordinär. Aber ich bin schon recht erfreut, dass ihr mich nicht als Gespenst bezeichnet habt!“ Er lächelte und wartete auf eine Reaktion, denn offensichtlich war seine letzte Bemerkung als Lob gedacht. Aaron nickte ihm deshalb kumpelhaft zu und meinte: „Klar, kein Problem, gerne doch…“ Er verstand noch immer nicht, was er hier gerade erlebte. Vielleicht träumte er auch nur und lag eigentlich gerade tief und fest schlafend oben in seinem Bett? Oder noch immer in seinem Camper in Portugal und der Tod des Großvaters, die Beerdigung, der Notarbesuch, das Flüstern in der Nacht waren ebenfalls Teil eines langen, merkwürdigen Traums, den er noch immer träumte? War etwa Filipe gestern Abend bei ihm gewesen und hatte etwas aus seinem – wie er ihn nannte – Kräutergarten mitgebracht? Nein, nicht dass er wüsste. Aaron erhob sich langsam, schüttelte sich, kniff sich in den Arm und sah sich aufmerksam um. Er war sehr sicher, dass das hier gerade wirklich geschah.

Aaron trat hinter dem Schreibtisch hervor und auf John Aubrey zu. Er streckte die Hand aus und sagte feierlich: „Ich bin hoch erfreut, dich kennenzulernen, John!“ John Aubrey runzelte erneut die Stirn. „Das wird nicht funktionieren, mein Herr. Das könnt ihr euch wohl denken, nehme ich an?“ Er deutete auf Aarons ausgestreckte Hand. „Tu mir den Gefallen, John, sonst glaube ich nicht, dass das alles wahr ist!“ John Aubrey hob zweifelnd eine Augenbraue, streckte aber schließlich ebenfalls die Hand aus. In dem Moment, als sich die beiden Hände berühren sollten, sah Aaron wie seine Hand durch die von John hindurch glitt, mit einem kaum merklichen Widerstand, wie durch eiskaltes Wasser hindurch. Nein, eher wie durch einen eisigen Nebel aus winzigen Schneekristallen. Aaron begann, zu lachen.

„Oh mein Gott, was für ein abgefahrener Scheiß! Du bist wirklich ein Geist! Und du wohnst schon dein ganzes Leben hier? Also, deinen ganzen Tod? Oder wie auch immer man bei einem Geist so sagt…“

Nun lachte auch John Aubrey. „Meinen ganzen Tod? Nein, mein Tod liegt schon viel zu lange zurück. Damals gab es den Antikhof noch nicht und ich weilte noch in Großbritannien, in England.“ Er schien zu überlegen. Dann sagte er mit entschlossenem Blick: „Ich würde sagen, ihr nehmt euch einen Cognac aus dem Globus da drüben und danach mit mir in den Ohrensesseln Platz und ich erzähle euch eine Geschichte. Eine Geschichte voll Lug und Trug, voller Intrigen und Geheimnisse, aber auch voller Erotik, Liebe und Tod.“ Die letzten Worte hatte John Aubrey geflüstert, nach jedem Wort dramatisch pausiert, dabei die Hand zur Faust geballt an die Brust geführt, die Augen geschlossen. Wie ein nicht sonderlich begabter Schauspieler aus einer Schmierenkomödie, dachte Aaron bei sich. Aber auch irgendwie amüsant. Und was hatte er sonst schon vor heute Nacht? Nach diesem Erlebnis einfach wieder ins Bett zu liegen und einzuschlafen erschien ihm in diesem Augenblick sowieso ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Und wenn er es sich recht überlegte, hatte die Sache sogar etwas sehr verlockendes an sich: Endlich würde wieder einmal eine Geschichte im Antikhof Pfundeisen erzählt werden. Bedauerlicherweise nicht von Anton Pfundeisen, dafür aber von einem waschechten Geist.

+

„Man schrieb das Jahr 1626 und ich erblickte das Licht der Welt in der Nähe von Malmesbury in Wiltshire, England. Als Sohn einer wohlhabenden Familie mangelte es mir nicht an Materiellem, lediglich wohl ein wenig an Abenteuer und Abwechslung. Letztere erlebte ich dafür in späteren Jahren umso mehr.“ Er machte eine theatralische Pause.

„Ah, ein klassisches foreshadowing!“ Mit einem gut gefüllten Cognacschwenker prostete Aaron John Aubrey zu. Dieser blickte kurz irritiert, nahm dann jedoch den Faden scheinbar ungerührt wieder auf:

„Ich genoss eine tadellose Bildung, meine juristische Karriere kam jedoch niemals recht in Fahrt. Dafür aber perfektionierte ich neben meinen Schreibkünsten auch mein Talent, den Menschen zuzuhören, ihnen Aufmerksamkeit und das Gefühl von Sicherheit zu schenken und mir jedes noch so kleine Detail ihrer Erzählungen zu merken. Auch und gerade die schmutzigen Details selbstverständlich. Die kleinen und großen Sünden, die Absonderlichkeiten, Verfehlungen und heimlichen Gelüste. Vielleicht fiel die eine oder andere Biografie, die ich für die vornehmen Damen und Herren der besseren Gesellschaft in deren Auftrag schreiben durfte daher auch nicht immer aus wie erwartet. Nun ja, sei es drum, die meisten hatten es verdient.“ Er lächelte still in sich hinein. „Zugegeben, ich war zwar schon immer ein geschickter Künstler mit den Worten, konnte durch meine Texte Spannung und Emotionen jeder Art erzeugen, doch wenn es für die Dramaturgie unerlässlich erschien, dehnte ich die Wahrheit vielleicht das ein oder andere Mal ein wenig aus, vielleicht gar über ein zulässiges Maß hinaus… Aber wer kennt schon wirklich die ganze Wahrheit, nicht wahr?“ Er zuckte mit den Schultern.

„Als mein Vater wenige Jahre nach meiner Mutter starb erbte ich als einziger Nachkomme große Besitztümer, aber auch Schulden in gleichem Maße. Ich trat mein Erbe dennoch mit Stolz an und führte meine journalistische, schriftstellerische Karriere fort. Leider konnte ich damit den vielen finanziellen Verpflichtungen nicht lange nachkommen, was auch an den zahlreichen Gerichtsprozessen mit meiner überaus empfindlichen Klientel gelegen haben mag. Und so wählte ich schließlich eine Art luxuriöses Vagabundenleben – ich veräußerte die Ländereien, packte einige liebgewonnene Besitztümer in drei Reisekoffer, behielt meine Kutsche und die Pferde und begann, zu reisen. Ich wohnte hauptsächlich bei den Menschen, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt hatte und die mich noch nicht aufgrund irgendwelcher mißverstandenen Anekdoten verklagt oder mit dem Tod bedroht hatten. Darunter waren natürlich auch viele alleinstehende, wohlhabende Damen, denen ich besonders gerne meine Aufwartung machte. Ihre Männer waren im Bürgerkrieg gefallen oder waren von Krankheiten dahin gerafft worden. Sie erfreuten sich jedenfalls gerne an meiner Gesellschaft, wenn ihr versteht, was ich meine!“ Er senkte für einen Moment den Blick, um seine Worte wirken zu lassen und lächelte in sich hinein, scheinbar in seine Erinnerungen versunken. Aaron schenkte sich etwas vom Cognac nach und meinte: „Klar, verstehe – da sind wir beim Teil mit der Erotik, richtig?“

John Aubrey zog eine Augenbraue hoch, ging aber ansonsten auch über diese Bemerkung hinweg. In seinen rhetorischen Kunstpausen erwartete er wohl keine geistreichen Wortbeiträge durch das Publikum. Das kam Aaron entgegen und er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und sah erwartungsvoll zu John hinüber, der einmal tief einatmete und theatralisch fort fuhr: „Und dann begann ich, mich für die Historie zu interessieren!“ Bei diesen Worten drehte er sich erneut mit ausgestreckten Armen im Kreis und sah eine Zeitlang versonnen nach oben, durch die Dachfenster in den Sternenhimmel. „Die Geschichte meiner Heimat lag mir besonders am Herzen. Vor allem die besonders lange vergangenen Zeiten, aus denen nur noch mystische Erzählungen übrig geblieben sind. Ich besuchte die Steinkreise von Avebury und spürte dort etwas, das ich mir nicht erklären konnte, das mich aber faszinierte und nie wieder los ließ. Diese Steine erzählten mir geradezu Geschichten, nicht mit Worten, sondern mit Gefühlen. Ich forschte nach ihren Ursprüngen, nach den alten Riten und Gebräuchen und dann war es mir ein leichtes, all diese Gefühle in Texte umzuwandeln. Ich begann, meine Reisen entlang all jener mystischen Orte meiner Heimat zu planen. Und auf einer jener Reisen, viele Jahre, nein Jahrzehnte später geschah es dann…“ Er schloss die Augen und es schien, als müsse er Kraft sammeln, um das kommende zu berichten. Ob dies wieder einmal ausschließlich der Dramaturgie seines Vortrags diente, konnte Aaron nicht mit Sicherheit erkennen. Er vermutete es jedoch stark.

„Ich wusste nicht, dass mein Vater damals, als ich zwei Jahre alt war, nur etwa 30 Meilen entfernt in Hatford dabei gewesen war, als ein Meteorit zur Erde gestürzt war. Und dass er etwas von den Überresten des Himmelskörpers mitgenommen und all die Jahre verwahrt hatte. Er hatte diesen kleinen Stein vor der Welt versteckt, indem er ihn in einen geheimen Zwischenboden in einem seiner Reisekoffer gepackt und mit niemandem je darüber gesprochen hatte. Er hatte befürchtet, dass von seinem Fundstück eine Gefahr ausgehen könnte. Er hatte wohl auch die Kraft gespürt, die der Stein um sich versprühte wie ein feines Duftwasser, wahrnehmbar nur für den siebten Sinn der besonders feinfühligen Menschen. Ich entdeckte den Stein am Tag meiner Abfahrt, als ich mich wieder einmal auf Forschungsreise nach Oxford begeben wollte. Etwas überhastet musste ich aufbrechen, weil ich die Gastfreundschaft einer meiner reizenden Bekanntschaften etwas über Gebühr strapaziert zu haben schien… Wahrscheinlich hätte ich die Dirnen nicht zu ihr nach Hause einladen sollen, wenn ich es genauer bedenke. Nun ja, sei es drum, wir alle machen Fehler. Oder wie ihr in Deutschland gerne sagt: Hinterher ist man immer schlauer, nicht wahr? Wo war ich stehen geblieben? Der Stein, genau! Der Boden eines mir bis dato unbekannten Geheimfaches in einem meiner drei geerbten Reisekoffer hatte sich jedenfalls über all die Jahre gelockert. Ich fand darin den Stein nebst einer handgeschriebenen Notiz meines Vaters, in welcher er erklärte, um was es sich handelte. Um den Stein, der vom Himmel fiel und der sich mit dieser geheimnisvollen Aura umgab. Ich steckte ihn eilig in meine Manteltasche, denn ich wollte mir meinen Fund später in Ruhe genauer ansehen. Das kleine Stück Himmelsgestein sah damals übrigens noch ganz anders aus, als jetzt…“ Er deutete mit seinem Zeigefinger auf das Medaillon an Aarons Brust.

„Diese Form hat es erst von eurem Großvater bekommen. Doch ich greife schon wieder viele Jahrhunderte vor, verzeiht mir. Es ist schon eine Weile her, dass ich meine Geschichte in Gänze und doch in aller Kürze erzählen konnte und ich bin etwas aus der Übung!“ Er räusperte sich. Aaron griff erneut nach der Cognacflasche.

„Ich setzte mich also in die Kabine meiner Kutsche. Lediglich der von mir angeheuerte Kutscher saß vorne auf dem Bock, in der Kabine jedoch war ich selbstverständlich der einzige Passagier. Das zumindest dachte ich zu diesem Zeitpunkt. Wir fuhren los, es holperte und polterte wie üblich. Und ich erinnerte mich an meinen merkwürdigen Fund, den Stein, der sich in meiner Tasche befand. Ich nahm ihn heraus und wog ihn vorsichtig in der Hand. Er fühlte sich recht schwer an für seine Größe, sah verkohlt aus, hatte scharfe, unregelmäßige Kanten und er schien aus dem Inneren heraus zu leuchten. Nur ganz schwach. Und wie ich ihn so in meiner Hand hielt, bemerkte ich eine Veränderung im Augenwinkel. Ich war nicht mehr alleine in der Kutsche. Mir gegenüber saß ein weiterer Passagier. Ich blickte auf und sah in das schrecklich entstellte Gesicht eines Mannes, zumindest in einen Teil davon, denn der Rest war von Blut bedeckt, das aus einer klaffenden Wunde in seinem Schädel lief. Kein Wunder, denn dort hatte sich wohl eine Axt ihren Weg direkt in sein Gehirn gebahnt. Und in diesem Moment bin ich gestorben. Denn ich hatte mich zu Tode erschreckt!“ Er senkte den Kopf, als bedenke er seinen eigenen Tod mit einer Schweigeminute.

„Nun war ich also tot, doch ich war immer noch da. Das war schon reichlich ungewöhnlich. Ich war nicht mehr in meinem Körper, ich stand neben ihm, sah zu, wie mein Kutscher ihn am Ende unserer Reise in Oxford entdeckte, wie er ihn schüttelte. Wie er dann begann, meine Taschen nach Wertgegenständen zu durchsuchen, dieser elende Lump. Er steckte meine Taschenuhr ein, dann erst machte er sich auf die Suche nach einem Arzt, der mich schließlich für tot erklärte. Den merkwürdigen Stein, der vom Himmel fiel, konnte allerdings niemand finden, denn diesen hielt ich in meiner Hand. Nicht in der Hand, die man mit meinem Körper zu Grabe trug, nein, ich hatte den Stein mit in die Zwischenwelt genommen. Ihr müsst wissen, ich bin bis heute noch nicht ins Jenseits eingetreten, ich bin gefangen in einer Welt zwischen hier und dort, zwischen Leben und Tod. Ich kann in die eine und in die andere Richtung blicken, doch nirgendwo kann ich ganz und gar sein. Ich warte noch immer auf den Moment, da das Universum mich in die Unendlichkeit des Todes eintreten und Frieden finden lässt.“ Er blickte sehnsüchtig in die Ferne.

„Selbstverständlich wusste ich mit meiner Zeit dennoch jederzeit etwas anzufangen. Die Vorzüge des Daseins als wandelnde Seele lernte ich schon bald zu schätzen. Ich erfuhr noch mehr über meine Mitmenschen, als es mir zu Lebzeiten je möglich gewesen war und das auf ganz unkomplizierte Weise. Auch das Reisen war nun keine finanzielle Belastung mehr und bleiben konnte ich, wo ich wollte. Ich sammelte also wieder einmal Geschichten und Anekdoten über die Schönen und Reichen – und diese fielen in dieser Phase noch brisanter und intimer aus. Nur konnte ich sie natürlich nicht mehr aufschreiben und veröffentlichen, das betrübte mich sehr. Da erinnerte ich mich wieder an den Stein. Ich trug ihn mit mir herum, doch ich konnte ihn natürlich auch irgendwo drapieren und warten, bis er von einem Lebenden gefunden wurde. Und so suchte ich mir immer wieder diesseitige Gefährten, mit denen ich gemeinsam auf Reisen ging und Geschichten sammelte und durch deren Hände in Büchern und Schriften veröffentlichte. Natürlich klappte das nur mit denen, die nicht wie ich tot umgefallen waren oder schreiend die Flucht ergriffen hatten.“ Er grinste über seinen eigenen Scherz und sah Aaron erwartungsvoll an, der sich gerade einen wirklich letzten Schluck Cognac eingoss. Aaron goutierte die kleine Pointe des Vortrags mit einem gönnerhaften Lächeln, prostete John zu und ermutigte ihn mit einer Handbewegung, seine Erzählung fortzusetzen.

„Nun gut, mit den Jahrhunderten wurde es mir dann doch recht langweilig und ich begann, auch aus eigenem Interesse wohlgemerkt, das zu erforschen, was mir widerfahren war. Warum wurde jemand zum Geist, wie konnte man diesen Zustand ändern, wie konnte man mit der einen oder der anderen Welt interagieren? Und dabei traf ich irgendwann eben auch auf einen jungen Deutschen namens Anton Pfundeisen, der von den Mythen und Mysterien der Welt ebenso fasziniert zu sein schien wie ich. Ich hatte ihn einige Tage lang beobachtet und für würdig befunden. Ich offenbarte mich ihm, indem ich den Stein auf seinen Nachttisch legte, als er in einem heruntergekommenen Pub in einem Gästezimmer schlief. Er entdeckte den Stein am nächsten Morgen und damit auch mich. Das einzige, was er in diesem Moment sagte, war: ‚Das überrascht mich jetzt aber!‘ Könnt ihr euch das vorstellen?“ Er lachte, während er sich offenbar lebhaft an diesen Moment erinnerte. Aaron riss die Augen in gespieltem Erstaunen auf, lächelte dann ebenfalls und schüttelte offenbar amüsiert den Kopf. Er hatte das Spiel begriffen. Reagieren, aber nicht unterbrechen!

„Anton Pfundeisen sorgte dafür, dass der Stein geschliffen und poliert wurde, passte ihn in ein Medaillon ein, das sich in seinem Besitz befand und trug ihn seit diesem Tag um seinen Hals. Wir gingen fortan gemeinsam auf Reisen, ich würde sogar sagen, wir wurden sehr schnell zu Freunden, gemeinsam auf der Suche nach übersinnlichen Geheimnissen und deren Lösung. Auch euer Großvater war ein geschickter Verführer, wenn ich das so sagen darf. Und damit meine ich nicht die Damenwelt, ausnahmsweise. Anton Pfundeisen verführte die Menschen dazu, ihm zu vertrauen. Versteht mich nicht falsch, er nutzte dieses Vertrauen niemals zu unlauteren Zwecken aus. Doch den einen oder anderen Vorteil verschaffte er sich sicherlich durch dieses mir ebenfalls wohlbekannte Talent. Und so schuf er über die Jahre und Jahrzehnte hinweg nach und nach diesen Ort. Diesen Ort, an dem ich begann, mich wirklich heimisch zu fühlen. Das erste Mal seit meinem Tod hatte ich wieder ein Zuhause.“ Er schaute sich versonnen im Büro von Anton Pfundeisen um.

„Ihr könnt euch vorstellen, dass ich in großer Sorge darüber war, was wohl nach seinem Tod mit diesem Ort geschehen würde. Doch euer Großvater versicherte mir immer wieder, dass meine Sorgen unbegründet seien. Er meinte, das Funkeln in euren Augen gesehen zu haben, das auch ihm selbst in jungen Jahren inne gewohnt hatte. Er war sich sicher, dass ihr den Antikhof Pfundeisen weiterführen würdet. Mit all seinen Geheimnissen. Von denen ihr nun das erste kennt. Ich bin eines der Geheimnisse dieses Ortes. Ich, die suchende Seele John Aubreys, dem Freund eures Großvaters.“ Er breitete die Arme aus und verbeugte sich. Seine Erzählung war offenbar an ihrem Ende angekommen. Er ließ sich, sichtlich erschöpft, in den Sessel fallen und seufzte.

„Was würde ich darum geben, auch noch einmal den Geschmack des Cognacs auf meiner Zunge zu spüren!“ Er deutete auf das Glas in Aarons Hand, das dieser gerade mit einem großen Schluck geleert hatte.

Erst jetzt bemerkte Aaron, dass er die Flasche mit dem Cognac fast vollständig ausgetrunken hatte.  Er erschrak. Wie viel war wohl ursprünglich darin gewesen, als er sie aus der Minibar in dem großen, hölzernen Globus geholt hatte? Es spielte eigentlich keine Rolle, denn da Aaron normalerweise so gut wie gar keinen Alkohol trank, würde ihm die Menge an Cognac definitiv ordentlich zusetzen. Dieser Gedanke war auch das letzte, an das sich Aaron am nächsten Morgen erinnern konnte.

Er erwachte im Büro, tief in einem der Ohrensessel eingesunken. Wann hatte er sich denn in den Sessel gesetzt und wieso war er darin eingeschlafen? Die Sonne ließ bereits ihre kräftigen Strahlen durch die Dachfenster scheinen. Und da es im Antikhof immer ein kleines bisschen staubig war, zeichneten sie sich als breite Streifen deutlich in der Luft ab und kleine Staubkörnchen tanzten fröhlich darin herum. Die Vögel zwitscherten, doch von John Aubrey war nichts zu sehen. Aaron war mehr als übel und er merkte, dass er sich bald übergeben werden müsste. Also machte er sich auf den Weg zur Toilette im ersten Stock. In seinem Kopf hämmerte jemand von innen schmerzhaft an die Schädeldecke. Als er den größten Teil seines Mageninhalts in die Toilettenschüssel entlassen hatte, ging es ihm für einen kurzen Moment besser. Er schwankte zum Waschbecken, ließ kaltes Wasser aus dem Hahn laufen und schöpfte sich mit beiden Händen einen großen Schwall davon mitten ins Gesicht. Oh ja, das tat gut! Seine Lebensgeister erwachten, gemeinsam mit den Erinnerungen an die letzte Nacht. Er trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch ab, zog seine verschwitzten Schlafklamotten aus und nahm eine erfrischende Dusche.

Bei kaum einer anderen Gelegenheit konnte er besser Ordnung in seine Gedanken bringen. Erst jetzt bemerkte er, dass er das Medaillon seines Großvaters noch immer trug. Wahrscheinlich war es auch besser, es von nun an nie wieder abzulegen. Wie konnte er sonst jemals wieder sicher sein, sich nicht in einem Zimmer voller Geister zu befinden? Beim Gedanken an die letzte Nacht beschlichen ihn nun doch einige Zweifel. Hatte er all das wirklich erlebt? Schlich da unten der Geist des John Aubrey aus dem 17. Jahrhundert durch die Ausstellungsstücke? Oder trieb er sich gar hier oben herum? Hektisch stellte er das Wasser ab und sah sich im Badezimmer um. „John?“ rief er zaghaft. Eine Antwort bekam er nicht. Dafür klopfte es unten an die hölzerne Eingangspforte. Schon wieder Besuch? In Windeseile suchte sich Aaron einige Kleidungsstücke zusammen, schlüpfte in sie hinein und eilte die Treppe hinunter.

+

Wer wird wohl der frühe Besucher sein, der vor der Tür steht? Und war John Aubrey nur ein Traum oder Wirklichkeit? Das werden wir im nächsten Kapitel erfahren - und das gibt es HIER!

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert