Alle Texte,  Geschichten

Der Erbe des Königs

Es waren dunkle Zeiten. In einer dunklen Welt. Das Königreich von Grünbergen befand sich kurz vor dem totalen Untergang. Seit beinahe zwei Jahrzehnten in einem Zustand des kalten Krieges mit den verhassten Nachbarn aus Kupfergrund und ohne Führer. Seit König Odomar bei der letzten großen Schlacht um Burg Sternenmond gestorben war ohne einen Nachfolger zu hinterlassen, kümmerte sich sein Statthalter Gundolf vom Schattenhain mehr schlecht als recht um das Königreich, aber umso mehr um die Vermehrung seines eigenen Vermögens.

Vor Jahrhunderten einst waren beide Königreiche vereint gewesen zu einem großen, mächtigen Reich, in dem es den Menschen an nichts mangelte. Seit sich die Gebrüder Hornburg damals jedoch entzweiten und eine Grenzmauer zogen, wurde nichts je mehr wie es einst war. Könige kamen und gingen, Kriege brachen aus und ebbten ab. Die Grenze aber blieb. Bis heute.
Ein fairer Handel war nicht mehr möglich, hohe Einfuhrzölle und bestechliche Söldner an den Grenzen machten es beinahe unmöglich, die Güter des täglichen Bedarfs zu einem bezahlbaren Kurs auszutauschen. Die besten Geschäfte machten die Schmuggler, die sich über die wenig bewachte, schwer zugängliche Küste im Norden ihren Weg bahnten.
Mit den Jahren machte der Zahn der Zeit sich auch an der mächtigen Grenzmauer zu schaffen und es gab immer wieder baufällige Abschnitte, die bis zu ihrer notdürftigen Renovierung für Reisende, Händler und Abenteurer eine einfache und vor allem billige Möglichkeit boten, vom einen ins andere Königreich zu wechseln.
Für die Bauern und Arbeiter beider Länder waren die alltäglichen Aufgaben in den Wäldern, auf den Feldern und in den Minen hart. Sie kümmerten sich kaum noch darum, wer sich gerade sein adliges Hinterteil auf dem Thron breit drückte oder eben nicht. Die Steuern waren hoch, das Leben war eine Herausforderung. Tag für Tag. Auch für die Menschen in Quellfried, einem kleinen Dorf inmitten der ausgedehnten Waldgebieten Grünbergens.
Die einzige Ablenkung vom harten Alltag bot die kleine Spelunke in der Dorfmitte, in der sich die Bauern für wenig Geld mit schlechtem Alkohol in einen passablen Rauschzustand inklusive Kopfschmerzen am Tag danach trinken konnten.
Man könnte auch vermuten, dass der Alkohol nicht der einzige Grund war, warum manch Bauer Abend für Abend die Kneipe aufsuchte. Vielleicht lag es auch ein klein wenig an Anniek, der jungen Kellnerin. Sie war die Tochter der Wirtsleute und seit sie vor einigen Jahren alt genug gewesen war, im Betrieb mitzuarbeiten, hatte sich der Umsatz deutlich erhöht. Für ein Lächeln von Anniek oder einen flüchtigen Blick in ihren Ausschnitt saßen die Herren gerne auch ein Stündchen länger.
Hier, in diesem kleinen Gastraum blieben die Uhren immer für eine Weile stehen. Hier konnte man die Sorgen des Alltags vergessen. Man war unter sich. Die wenigen Fremden, die kamen, wurden herzlich willkommen geheißen. Meist waren es Reisende, die hier Station machten und Geld in die kleine Gemeinde brachten. Sie übernachteten im Wirtshaus, ließen ihre Pferde beim Hufmacher beschlagen, kauften Vorräte bei den Bauern.
So auch der geheimnisvolle Fremde, der allein, ohne Diener oder Gefolge, in seinen Reiseumhang gehüllt eines Abends durch den strömenden Regen in das Dorf geritten war und die Tür zum Gasthaus aufgerissen hatte. Er hatte sich abseits in eine dunkle Nische gesetzt und sich Essen und Trinken bestellt. Seine Kapuze hatte er nicht abgenommen. Zum Zeichen, dass er wohlhabend und zum Bezahlen fähig war, hatte er einen kleinen schwarzen Samtbeutel mit klimperndem Inhalt auf die Tischplatte fallen lassen.
Die Gespräche der anderen Männer waren nur kurz verstummt. Es kam vor, dass Fremde auf geheimer Mission hier Station machten. Meist waren es Kopfgeldjäger, die auf der Suche nach dem sagenumwobenen Königssohn waren, der angeblich unerkannt und unwissend irgendwo mitten unter ihnen lebte.
Es war auch normal, dass Anniek von den Fremden angeflirtet wurde. Und dass es eindeutige Angebote gab. Daher wunderte Anniek sich keineswegs, als der Blick des Fremden etwas länger auf ihrem Dekolleté verweilte, ehe er sie einlud, sich zu ihm zu setzen. Es gab nicht viel zu tun, sie ließ sich auf ihn ein. Viele der Fremden schätzen ihre Gesellschaft. Sie konnte zuhören. Sie strahlte Ruhe aus. Sie verdiente ihr Trinkgeld damit, da zu sein. Zu mehr ließ sie es nicht kommen. Sie hatte ihre Prinzipien.
„Wie heißt Ihr?“ fragte der Fremde.
„Anniek. Ich bin die Tochter des Wirtes. Und ich bin nicht käuflich, falls Ihr das im Sinne habt!“
Ihre Stimme war freundlich und doch unmissverständlich. Sie blickte dem Fremden in die Augen. Das einzige, was unter der schwarzen Kapuze klar zu erkennen war. Er schien zu lächeln.
„Keineswegs. Eine Frau Eurer Schönheit würde ich nicht kaufen wollen. Ich würde sie erobern wollen.“
Er sah sie an. Keine Spur von Ironie in seinen Gesichtszügen. Er meinte es ernst.
„Sagt, kann ich mich hier von meiner anstrengenden Reise erholen? Habt Ihr eine Kammer für mich?“
Anniek war froh, dass der Fremde das Thema gewechselt hatte und sagte freundlich:
„Ja, wir haben einige Kammern. Ihr könnt gerne bleiben. Ich lasse euch ein Zimmer herrichten.“
Aus einer anderen Ecke der Kneipe wurden Rufe nach Anniek laut. Sie musste wieder an die Arbeit.
„Eine schöne Kette tragt Ihr“ hatte der Fremde noch gesagt, ehe sie weiter gegangen war.
Noch nie zuvor hatte jemand ihr unscheinbares Medaillon in Form eines Dreiecks aus angelaufenem Silber bemerkt, das sie an einer dünnen Kette um den Hals trug. Sie hatte diese Kette seit sie denken konnte. Ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrer Geburt vor zwanzig Jahren. Zu einer Zeit, als noch offener Krieg zwischen den Königreichen herrschte, die Bauern Kriegsdienst leisten mussten und ein gesundes neugeborenes Kind wie ein Licht der Hoffnung in den Wirren des Todes wirkte.

Der Fremde war am nächsten Tag nicht weitergeritten. Er hatte lange geschlafen, den Tag damit verbracht, verschiedene Besorgungen zu machen. Am Abend saß er wieder in der dunklen Ecke vor seinem Krug und der Platte mit Brot und Schinken.
„Wollt ihr Euch wieder zu mir setzen?“ hatte er Anniek gefragt. Sie hatte die Einladung angenommen. Ihre Beine schmerzten. Die Arbeit in der Kneipe war hart. Aber sie gab ihr einen gewissen Sinn im Leben. Eine Struktur. Doch insgeheim wünschte sie sich, eines Tages auf den „Richtigen“ zu treffen, der sie mit sich nahm und zu seiner Prinzessin machte.
Zum ersten Mal konnte sie das Gesicht des Fremden aus der Nähe betrachten. Er trug heute keine Kapuze. Anniek sah seine durchdringenden Augen, die ernsten Falten auf seiner Stirn, die wettergegerbte Haut. All diese Dinge ließen ihn älter wirken, als er in Wirklichkeit sein musste. Anniek schätze ihn auf höchstens dreißig.
„Wer seid Ihr? Kann ich auch Euren Namen erfahren?“ fragte sie ihn.
„Ich bin Samuel. Ich bin… auf der Suche.“
Er sah sie ernst an.
„Auf der Suche? Nach was, wenn ich fragen darf?“
„Nach dem Königssohn.“
Anniek seufzte. Das hatte sie schon allzu oft gehört.
„Der König hat keinen Erben hinterlassen“, erwiderte sie. „Alles andere sind Märchen. Viele haben schon nach ihm gesucht, aber keiner hat ihn bisher gefunden.“
„Ich bin mir sicher, dass der König einen Nachfolger hinterlassen hat. Ich… ich weiß es ziemlich genau.“
Er sah ihr direkt in die Augen, als wolle er seinen Worten noch mehr Gewicht verleihen.
„Und woher wisst Ihr das?“
Er zögerte.
„Kommt nachher in meine Kammer. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen!“
„Eine Geschichte. Aha. Bedaure, aber mir steht der Sinn nicht nach einer… Geschichte.“
Anniek setzte ihren betont empörten Gesichtsausdruck auf, den sie im Laufe der Zeit perfektioniert hatte.
„Ihr denkt, ich möchte euch an die Wäsche?“
Er lächelte.
„Selbstverständlich denke ich das!“
Auch sie lächelte. Herausfordernd.
„Möglicherweise habt ihr Recht. Aber ich habe es schon einmal gesagt: Eine Frau Eurer Schönheit möchte ich erobern. Und mir nicht gegen ihren Willen nehmen. Ich… möchte euch tatsächlich nur eine Geschichte erzählen. Glaubt mir, sie wird euch interessieren!“

Sie saß tatsächlich auf dem kleinen Stuhl in seiner spärlich eingerichteten Dachkammer im schwachen Schein einer Kerze. Sie konnte es sich nicht erklären, doch sie hatte Vertrauen gefasst gegenüber diesem geheimnisvollen Fremden. Er hockte auf seinem Bett im Schatten, spielte unablässig  mit einem kleinen, dunkelblauen Samtbeutel in seinen Händen und erzählte ihr von seinen Reisen.
„Ich habe einen alten Mann getroffen. Er war damals dabei. Vor ziemlich genau fünfundzwanzig Jahren, als unser König bei dieser grausamen Schlacht getötet wurde. Er war damals in der Burg beschäftigt, war sogar ein Vertrauter König Odomars.
In jener dunklen Nacht, als Darian mit seinen Mannen über die Burg hergefallen ist, hat der Alte am Bett der Königin Wache geschoben. Die Königin hatte schon seit einigen Tagen mit hohem Fieber im Sterben gelegen, nachdem sie einem Sohn das Leben geschenkt hatte.
Um seinen Sohn zu schützen, hat der alte König ihn in dicke Decken gepackt und ihn mit Hilfe eines Botenreiters auf eine verzweifelte Reise geschickt. Er hat ihm reichlich Geld mitgegeben und als Zeichen des königlichen Blutes ein goldenes Medaillon um den Hals gehängt, ein Medaillon mit dem Zeichen Burg Sternenmonds. In der Hoffnung, dass sein Sohn den Krieg überleben und eines Tages als sein Nachfolger zurückkehren werde.
Die Königin verstarb in dieser Nacht und auch der König, der zusammen mit seinem Widersacher Darian die hohe Burgmauer hinab in den Tod stürzte.
Seit diesem Tag befinden sich unsere beiden Königreiche zwar noch im Krieg, doch keiner der beiden amtierenden Thronfolger hat Interesse daran, den Krieg offen auszutragen.
Der Sohn Darians, Salaniel, war damals noch ein Kind. Er ist inzwischen ein junger Mann, der lieber mit seinen Freunden auf die Jagd geht, als sich um sein Königreich zu kümmern. Man sagt aber, auch er habe seine Kopfgeldjäger losgeschickt. Seine stärksten Männer hat er dafür ausgewählt und ihnen sein Zeichen eingebrannt, um zu verhindern, dass sie die Seite wechseln. Das Zeichen Kupfergrunds, die Spitzhacke und das Schwert. Diese Männer sollen den Sohn König Odomars finden und töten. Um einem offenen Krieg so lange wie möglich aus dem Wege zu gehen.
Denn auch dem Statthalter König Odomars, Gundolf vom Schattenhain, gefällt dieser Zustand. Er hat besseres zu tun, als Krieg zu führen. Nämlich seine Steuern zu seinen Gunsten zu verwalten. Ohne Krieg können die Bauern weiter wirtschaften und seine Kassen und Vorratsspeicher füllen. Im Krieg würde er auf all das verzichten und außerdem um sein Leben fürchten müssen.
Er hat natürlich auch ein Kopfgeld auf den Königssohn ausgesetzt. Offiziell möchte er ihn finden, um ihn auf seinen Thron zu führen. Doch was er mit ihm machen würde, sollte er ihn wirklich finden, das weiß nur er selbst.
Versteht Ihr?
Keiner der beiden möchte, dass sich etwas ändert. Die beiden haben sich nie gesehen, nie miteinander gesprochen, doch es scheint, als herrsche eine Art stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen. Es ist ein verdammter Wettlauf. Wer findet den Erben des Königs zuerst? Wer tötet ihn zuerst?
Und in diesen Wirren gibt es Menschen wie mich, die das Gleichgewicht der Länder und einen fairen Handel wiederherstellen wollen. Und dazu braucht es starke, legitime Herrscher an den Spitzen beider Königreiche.
Wenn wir den Erben des Königs zuerst finden, dann kann unser Königreich mit ihm an der Spitze wieder zu seiner alten Herrlichkeit aufsteigen. Und er kann Salaniel, den König Kupfergrunds herausfordern. Aber nicht zum Krieg, sondern zum Frieden!
Wenn die anderen ihn finden, gleich ob es die Häscher Kupfergrunds oder Grünbergens sind, wird sich das Chaos in beiden Königreichen weiter steigern. Denn er würde dann auf keinen Fall seinen Thron jemals lebend erreichen. Keinesfalls, da bin ich sicher.
Lange wird dieser Zustand in unseren Ländern aber nicht mehr gutgehen. Die Menschen sind unzufrieden. Und ihre Unzufriedenheit wächst jeden Tag mehr. Irgendwann wird es Aufstände geben. Die blutig niedergeschlagen werden. Sinnlose Gewalt wird sich verbreiten.
Die Menschen brauchen eine Führung. Sie brauchen einen König. Deshalb bin ich auf der Suche nach ihm.“
Er machte eine Pause und starrte auf den Samtbeutel, dessen Inhalt er wohl beinahe zerdrückt hatte, als er sich in Rage geredet hatte. Er legte den Beutel auf das kleine Tischchen neben seinem Bett. Es klang, als sei ein schwerer, metallener Gegenstand darin. Einen Moment lang dachte Anniek nach, ob sie ihn danach fragen sollte. Dann sagte sie aber nur:
„Das ist alles sehr interessant. Ich wusste das alles bisher nicht. Nur das, was sich die Bauern so erzählen. Dass sich die beiden Könige gegenseitig getötet haben und wir seitdem einer ungewissen Zukunft zustreben. Ich habe mich auch nie mit diesen Dingen beschäftigt. Aber viel wichtiger ist auch: Warum zum Teufel erzählt ihr mir das alles?“
„Weil ich glaube, den Sohn des Königs gefunden zu haben.“
„Aha. Aber das dachten auch schon einige vor euch. Wie wollt ihr beweisen, dass er es ist?“
„Derjenige trägt ein Symbol bei sich. Es ist ein Medaillon mit dem Zeichen des Königs. Dem Stern mit dem Sichelmond darin. Ein Medaillon, wie es der alte König seinem Nachfolger mit auf die Reise gegeben hat.“
„Das ist noch kein Beweis.“
Anniek blickte ihn unerbittlich an. Samuel ließ sich nicht beirren. Seine Stimme klang fest und entschlossen, als er weiter sprach.
„Nehmen wir mal weiter an, dieser Mann wäre im richtigen Alter und hätte keine Eltern mehr, sondern wäre in einem Kloster von Nonnen aufgezogen worden. Und hätte zu seinem 16. Geburtstag, zur Volljährigkeit und zur Entlassung aus den Klosterdiensten eine Kiste mit seinen Habseligkeiten bekommen, die bis dahin von den Nonnen aufbewahrt worden waren. Und in diesen wäre dieses Medaillon gewesen. Neben einer großen Menge Münzen. Und er hätte sich viele Jahre keine Gedanken dazu gemacht. Bis zu dem Tag, an dem er den alten Mann getroffen  hat, der ihm vom Zeichen des Königs und dem goldenen Medaillon erzählt hat und den Geschehnissen jener Nacht.“
Er machte eine Pause.
„Anniek, ich glaube, ich bin der Sohn des Königs!“

Er hatte ihr das Medaillon gezeigt, bevor sie sich gemeinsam Hals über Kopf auf die Reise gemacht hatten. Sie wusste nicht genau, warum sie ihm ohne weitere Fragen gefolgt war. Sie hatte sich ihren Abgang aus dem Dorf anders vorgestellt. Triumphaler. Nicht in einer Nacht und Nebel Aktion mit einem Fremden, dem sie auf merkwürdige Art und Weise vertraute. Und der sich für den Sohn des verstorbenen Königs hielt und an seinen Hof zurückkehren und das Königreich regieren wollte. Und sie vielleicht zu seiner Königin machen. Oder zumindest zu seiner Kammerzofe.

In gebührendem Abstand, beinahe lautlos, wie von einer unsichtbaren Blase umgeben, die alle Geräusche schluckte, folgte den beiden eine schwarze, von zwei kräftigen Pferden gezogene Kutsche. Auch als der in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Kutscher seine Peitsche knallen ließ, war kein Laut zu hören.

—+—

Viele Tage waren sie nun schon unterwegs. Sie ritten jeden Tag so lange und so weit es ging, bis zur völligen Erschöpfung von Reitern und Pferd. Des Nachts schliefen sie meist in Ställen oder auf Heuböden, mal mit Wissen der Besitzer und gegen Bezahlung, mal ohne. Wenn einmal eine Herberge oder ein Wirtshaus auf dem Weg lagen, kehrten sie ein und blieben eine Nacht, dankbar, in einem Bett schlafen und sich mit frischem Wasser waschen zu können.
In all den Tagen blieb Samuel der zurückhaltende Gentleman, der er von Anfang an gewesen war. Mit der Zeit wünschte sich Anniek, dies wäre nicht so. Mit jedem Tag fühlte sie sich mehr und mehr zu ihm hingezogen.
Während sie ritten hatten sie kaum Gelegenheit, zu sprechen. Doch wenn sie abends dann im Schein einer Kerze oder unter freiem Himmel am Feuer, den Blick zu den Sternen am Himmel gerichtet nebeneinander lagen, erzählten sie sich oft stundenlang trotz bleierner Müdigkeit von ihren Wünschen und Träumen. Und mit jedem Mal wünschte sich Anniek sehnlicher, Samuel würde näher rücken, sie in den Arm nehmen und festhalten.
So auch an diesem Abend, nachdem sie stundenlang durch strömenden Regen geritten waren und bis auf die Haut durchnässt, frierend und hungrig in einer kleinen Kammer eines Bauernhofes Obdach gefunden hatten.
Nach einer einfachen Mahlzeit, einem Krug mit frischem Quellwasser und dem Wechseln der Kleidung kam Anniek die kleine Kammer beinahe wie das Paradies vor. Sie fror längst nicht mehr. Doch das musste Samuel nicht wissen.
Als sie sich zu ihm unter die warme Wolldecke auf das überraschend gemütliche Bett legte, zitterte sie theatralisch und nieste einmal kräftig.
„Ist dir kalt?“ fragte Samuel.
„Nein. Nein, es geht schon…“
Anniek nieste noch einmal. Sie hatte ihre Freude an diesem Schauspiel.
„Komm her.“
Samuel rückte näher. Schmiegte seinen Körper an sie und drückte sie fest an sich.
„Ist es so besser?“ flüsterte er.
Anniek bekam nun wirklich eine Gänsehaut. Lange hatte sie sich danach gesehnt. Sie schloss die Augen und sagte leise:
„Ja. Viel besser.“
So schlief sie ein und als sie am nächsten Morgen erwachte, war Samuel bereits aufgestanden und hatte ihre wenigen Sachen gepackt, bereit, die Reise fortzusetzen.
Auch am nächsten Abend, auf dem Heuboden einer alten Scheune, nahm Samuel sie in den Arm.
„Ich möchte nicht, dass dir kalt wird“, sagte er.
Anniek spürte, dass auch er ihre Nähe genoss. Sie schloss wieder ihre Augen, spürte seinen Atem in ihrem Nacken. In diesem Moment konnte sie nicht länger warten. Sie drehte sich in seinen Armen zu ihm um, ihre Nase berührte die seine und im gleichen Moment drückte sie ihre Lippen auf seinen Mund und zog ihn zu sich heran. Samuel erwiderte ihren Kuss, strich ihr zärtlich durch ihr Haar. Anniek fuhr mit der Hand unter sein Gewand, strich über seinen Rücken, über die Schultern, spürte plötzlich eine große Narbe auf seinem Schulterblatt und hielt inne. Auch Samuel stockte, nahm ihre Hand und zog sie zärtlich aber bestimmt unter seiner Gewandung hervor und drückte sie fest zwischen seinen eigenen Händen.
„Wir sollten besser schlafen. Wir sind kurz vor dem Ziel. Wir brauchen unsere Kraft.“
Er hielt inne. Dann küsste er sie auf die Stirn und strich ihr mit den Fingern über ihre Augenlider.
„Schlaf gut und träum was Schönes.“
Während Anniek sich noch Gedanken darüber machte, was geschehen war, übermannte sie der Schlaf. Doch was sie träumte war nicht schön und fühlte sich zudem so real an, dass sie am nächsten Morgen hätte schwören können, dass es tatsächlich geschehen war.
Dass sie nämlich mitten in der Nacht aufgewacht war, alleine, ohne Samuel an ihrer Seite. Sie war an eine Dachluke getreten, hatte nach draußen gesehen und dort in der Ferne das Licht einiger Fackeln gesehen. Zwei Männer in schwarzen Kapuzenmänteln waren aus einer Kutsche gestiegen, hatten eine große Kiste mit eisernen Beschlägen geöffnet und hineingesehen.
Ein dritter Mann war aus dem Schatten dazu getreten. Zuerst hatte sie gedacht, es sei Samuel. Er war ähnlich gekleidet, doch er trug nicht sein Gesicht, war etwas älter  und auch kleiner. Nachdem sie alle in die Kiste gestarrt hatten und etwas hineingelegt oder herausgenommen hatten, hatten sie sich mit einem kurzen Ritual aus merkwürdigen Gesten verabschiedet.
Der geheimnisvolle Mann, den sie zunächst für Samuel gehalten hatte, war daraufhin mit seiner Fackel in Richtung Scheune gekommen und dann aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie hatte Panik bekommen und nach Samuel gerufen. Der war auch gleich gekommen, hatte sie in den Arm genommen und beruhigt. Als sie noch einmal aus der Dachluke schaute, war nichts mehr zu sehen gewesen. Keine Fackeln, keine Männer, keine Kutsche.
„Du hattest einen Alptraum. Ich war nur kurz draußen. Ich musste nur mal… Du weißt schon, hinter die Bäume.“
Er hatte ihr noch eine Prise eines braunen Pulvers in einem Becher Wasser aufgelöst und gesagt:
„Trink das, dann schläfst du schnell wieder ein.“
Und sie war schnell wieder eingeschlafen.
Und nachdem sie dann am Morgen erwacht war und Samuel bereits wieder dabei war, ihre Sachen zu packen, vergaß sie die Nacht schnell wieder.

Nur noch wenige Tagesritte trennten die beiden von Burg Sternenmond. Anniek wurde von großer innerer Unruhe ergriffen. Und von Traurigkeit. Sie wünschte sich, die Reise mit Samuel würde kein Ende nehmen.
Was würde wohl geschehen, wenn sie den Königshof erreichten, Samuel den Thron besteigen und sein Königreich regieren würde? Würde sie ihm jemals wieder nah sein können?
An einem der folgenden Abende in einem Schuppen, der ihnen als Nachtlager diente, wurde sie von diesen Gefühlen derart übermannt, dass sie in Tränen ausbrach, als sie sich gerade gemeinsam mit Samuel zur Ruhe legen wollte.
Samuel versuchte, sie zu trösten, nahm sie fest in den Arm und streichelte ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie küssten sich wieder. Diesmal leidenschaftlicher, verzweifelter. Sie riss ihm sein Hemd vom Leib. Samuel pustete die Kerze aus, die den Schuppen in flackerndes Licht getaucht hatte.
Er trat an sie heran, streifte ihr Nachthemd ab. Ihre nackte Silhouette im weißen Mondlicht wirkte berauschend auf Samuel. Sie drückten ihre Körper aneinander, sogen den Duft des anderen ein und ließen alles geschehen, was sie bisher vermieden hatten.
Am nächsten Morgen erwachte Anniek als erste. Samuel schlief neben ihr. Hatte den Rücken zu ihr gedreht. Sie streichelte über seine Haut. Und sah das Brandmal auf seinem Schulterblatt. Sie erkannte es ganz deutlich und das ließ ihren Atem stocken und jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ein Teil seines Brandmals hatte die Form einer Spitzhacke, der andere Teil war ein Schwert. Es war das Zeichen Kupfergrunds. Das Zeichen der Häscher Salaniels.

Er hatte ihre Blicke gespürt, war aufgewacht und hatte in ihre erschrockenen Augen geblickt.
„Verdammt“, hatte er gesagt, bevor Anniek panisch die Flucht ergriffen hatte. Nur in ihr spärliches Nachtgewand gehüllt war sie losgelaufen.
Samuel war ihr nachgerannt, nur mit seiner Hose bekleidet. Er hatte sie eingeholt. Sie hatte geschrien, sich gewehrt. Doch noch bevor sie sich überlegen konnte, wie sie seinen starken Armen entkommen könnte, hatte er ihr seine Hand auf die Stirn gedrückt, woraufhin sie das Bewusstsein verloren hatte. Kurz hatte sie noch gemeint, in das Gesicht des Mannes zu blicken, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. Dann war es schwarz um sie geworden.
Nun saß sie gefesselt und geknebelt mit Samuel auf dem Pferd und ritt einem ungewissen Schicksal entgegen. In der Ferne war Burg Sternenmond bereits zu sehen. Anniek konnte sich nicht erklären, was Samuel mit dieser Entführung bezweckte.
Er hatte ihr während des gesamten Rittes nur zwei Sätze ins Ohr geflüstert:
„Glaub mir Anniek, all das, was geschehen ist, musste geschehen und was noch geschehen wird, muss genau so geschehen. Vertrau mir, all das hat seinen Grund und dir wird kein Leid geschehen.“
Als sie ganz nahe an Burg Sternenmond herangekommen waren, drosselte Samuel unvermittelt das Tempo und hielt schließlich an. Er überlegte. Dann stieg er ab, hob Anniek vorsichtig vom Pferd und legte sie ins weiche Gras zu seinen Füßen. Er sah ihr fest in die Augen.
„Ich weiß, dass das alles für dich keinen Sinn ergibt. Es war nicht geplant, dass ich mich in dich verliebe. Dass ich dich so nah an mich heranlasse. Zumindest noch nicht. Aber glaub mir bitte eines: Für die Menschen in diesem Königreich muss das geschehen, was gleich geschehen wird. Und dir wird ganz sicher kein Leid zustoßen. Ich bin bei dir und beschütze dich.“
Sie sah ihn ungläubig an, verdrehte dann genervt die Augen und schaute starr an ihm vorbei.
Samuel seufzte.
„Ja, ich weiß. Eine merkwürdige Art, jemanden zu beschützen, nicht wahr? Mit Fesseln und Knebel?“
Sie drehte ihren Kopf langsam wieder in seine Richtung. Sie nickte.
„Würde es dir leichter fallen, mir zu glauben, wenn ich die Fesseln abnehmen würde?“
Sie schaute ihn nachdenklich an. Dann nickte sie wieder.
„Wir fangen mit dem Knebel an. Versprich mir, nicht zu schreien…“
Langsam löste er den Knoten des Tuches, das er ihr um den Mund gebunden hatte. Sie spuckte einen zerknüllten Baumwollfetzen aus und hustete. Dann rief sie:
„Nicht schreien? Ich soll nicht schreien? Wie stellst du dir das vor? Ich soll nicht schreien? Hiiiilfeeee!“
Er hatte sich in der gleichen Sekunde zu ihr hinunter gekniet und seine Hand auf ihre Stirn gedrückt. Erneut wurde es schwarz um sie.
Als sie zu sich kam, saß sie im Schatten einer großen Eiche an den Stamm gelehnt, den Knebel wieder im Mund, nach wie vor an Händen und Füßen gefesselt. Samuel saß ihr gegenüber und lächelte sie an.
„Versuchen wir es noch einmal?“ fragte er.
Sie nickte. Er löste erneut den Knoten des Knebels. Anniek schrie nicht. Sie atmete tief ein und sah Samuel ins Gesicht.
„Und jetzt die Fesseln.“
Sie streckte ihm ihre Arme entgegen.
„Und zwar schnell!“
Samuel lachte leise. Er zog ein Messer aus seinem Gürtel und schnitt die Fesseln auf. Anniek rieb sich Arm- und Fußgelenke und sagte seufzend:
„Und jetzt die Wahrheit. Wer bist du? Warum sind wir hier?“
Samuel seufzte ebenfalls.
„Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber das ist es nicht. Ich bin nicht der Sohn König Odomars. Aber das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht. Ich habe die Geschichte meiner Herkunft erfunden, dass du mit mir kommst und mich bei meinem Vorhaben begleitest.
Ich habe dir aber die wahre Geschichte Kupfergrunds und Grünbergens erzählt und die Geschichte über den Wettlauf auf der Suche nach dem Königssohn. Ich habe dich dabei nur in einer Sache belogen. Salaniel, der Sohn Darians, der Herrscher über Kupfergrund ist keineswegs mehr ein Taugenichts, der lieber mit seinen Freunden auf die Jagd geht als sich um sein Königreich zu kümmern. Im Gegenteil.
Salaniel ist der einzige, der erkannt hat, dass der Erbe König Odomars unbedingt seinen Thron besteigen muss, um Grünbergen und Kupfergrund wieder zum Frieden zu führen. Mit Gundolf vom Schattenhain an der Spitze wird dies nie geschehen.
Anniek, Salaniel hat seinen Häschern nicht befohlen, den Königssohn zu finden und zu töten. Er hat ihnen befohlen, Gundolf vom Schattenhain zu töten.
Es ist höchste Zeit. Lange wird es nicht mehr dauern und die Bauern gehen auf die Barrikaden. Es wird Aufstände geben, die Gundolf blutig niederschlagen lässt. Das Land wird im Chaos versinken. Gundolf vom Schattenhain muss verschwinden. Er muss Platz machen für den legitimen Nachfolger König Odomars. Und freiwillig wird er das nicht tun.“
Samuel blickte Anniek in ihr verständnisloses Gesicht.
„Anniek, darum bin ich hier. Ich werde Gundolf vom Schattenhain töten. Er wird die bevorstehende Nacht nicht überleben.“

Anniek konnte es wieder einmal nicht fassen. Sie war Samuel ein weiteres Mal freiwillig gefolgt. Etwas in seinem Blick hatte ihr gesagt, dass dieser Mann keineswegs verrückt war, sondern aus tiefster Überzeugung handelte. Aus tiefster Überzeugung, den Frieden zwischen Grünbergen und Kupfergrund herbeiführen zu können.
Sie waren bereits auf dem Gelände der Burg. Samuel hatte die Wachen bestochen. Er wusste, mit welchen Worten und vor allem Münzen er sich Zutritt verschaffen konnte, ohne Fragen beantworten zu müssen.
So gelangten sie auch viel zu leicht bis tief in die Hauptburg. Irgendwo hier musste Gundolf vom Schattenhain zu finden sein. Sie schritten durch einen langen Korridor bis hin zu einer großen, geschlossenen Tür, vor der vier bewaffnete Soldaten Wache hielten. Der Thronsaal.
„He, ihr da, kündigt Gundolf vom Schattenhain unseren Besuch an!“ rief Samuel wie aus heiterem Himmel.
Die Wachen zuckten zusammen und nahmen Verteidigungshaltung an.
Samuel hob beschwichtigend die Arme.
„Immer langsam, Freunde. Ich habe etwas bei mir, das Gundolf vom Schattenhain sicher interessieren wird. Sagt ihm, ich weiß etwas über den Erben des Königs…“
Einer der Soldaten war vorgetreten.
„Das haben schon einige vor euch behauptet!“
Die Wache musterte Samuel aus der Nähe.
„Was sollte mich davon überzeugen, dass Ihr nicht einfach nur unsere Zeit und die unseres Statthalters verschwenden wollt?“
Samuel griff in seine Tasche und holte einen Beutel voller Münzen hervor.
„Das weiß ich leider auch nicht. Aber ich bin mir sicher, Ihr werdet unseren Besuch nun ankündigen. Habe ich recht?“
Der Soldat hatte lächelnd den Beutel eingesteckt und war in den Thronsaal gegangen. Nach wenigen Augenblicken war er zurück gekommen und hatte mit einer Verbeugung den Weg freigemacht.
„Gundolf vom Schattenhain wird erfreut sein, Euch zu sehen!“
Samuel hatte sein Schwert und sein Messer abgeben müssen. Unbewaffnet schritten Anniek und Samuel in den Thronsaal, gefolgt von den vier Soldaten. Sie gingen geradewegs auf Gundolf vom Schattenhain zu, der selbstgefällig auf dem Thron saß, abschätzig herabblickte und mit gelangweilter Stimme fragte:
„Nun, wer seid Ihr und was wollt Ihr?“
Samuel atmete tief durch, baute sich zu seiner ganzen Größe auf und sagte zu Annieks Erstaunen mit fester Stimme:
„Ich bin Salaniel, Sohn Darians, Herrscher über Kupfergrund und fordere euch hiermit auf, den Thron zu verlassen und dem wahren König zu überlassen!“
Erst ungläubig, dann amüsiert erwiderte Gundolf vom Schattenhain:
„Nehmen wir einmal an, ihr wärt tatsächlich Salaniel. Wie wollt ihr mich zwingen, meinen Thron zu verlassen? Ihr seid alleine und unbewaffnet…“
Samuel lachte.
„Ihr habt nicht ganz recht. Ich bin zwar unbewaffnet, aber nicht alleine!“
Er blickte hinüber zu Anniek. Annieks Erstaunen wich Entsetzen. Erwartete Samuel, dass sie gemeinsam gegen die Wachen kämpfen würden?
Gundolf vom Schattenhain lachte prustend.
„Ihr zwei wollt mich also zwingen, den Thron zu verlassen? Wer in Gottes Namen gibt euch das Recht, mir mit solch einem hanebüchenen Unsinn zu kommen? Ihr wisst, dass ich nur mit den Fingern schnippen brauche, um euch auf immer und ewig einkerkern oder auf der Stelle enthaupten zu lassen?“
Samuel ließ sich nicht beeindrucken. Er erwiderte ungerührt:
„Ihr werdet euch doch nicht an königlichem Blut vergreifen?“
Gundolf vom Schattenhain lachte verächtlich.
„Pah, Kupfergründler haben kein königliches Blut in den Adern. Keiner von ihnen.“
Samuel grinste bedrohlich und senkte seine Stimme, als er sagte:
„Ich spreche nicht von mir.“
Gundolf vom Schattenhain wusste für einen Moment nichts zu erwidern. Anniek verstand gar nichts mehr. Dieses Schauspiel überstieg ihre wildesten Vorstellungen.
Samuel sprach triumphierend weiter:
„Seht sie euch an. Seht ihr in die Augen. Erkennt ihr sie? Ihr habt sie schon einmal gesehen, nicht wahr? Damals, als ihr sie im Namen König Odomars aus der Burg geschafft und auf der nächstbesten Türschwelle abgelegt habt. Habe ich recht?“
Gundolf vom Schattenhain hatte sich erhoben. Er sprach nicht. Auch lachte er nicht mehr. Er ging wie vom Donner gerührt auf Anniek zu, die wie gelähmt auf der Stelle stand und nicht wusste, was sie tun, was sie sagen sollte. Gundolf vom Schattenhain kam nahe an sie heran und sah ihr in die Augen.
Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Erkenntnis. Ärger, Wut und Hass spiegelten sich für einen flüchtigen Moment in seinem Gesicht. Dann besonn er sich, atmete durch, kniete nieder und sagte mit geneigtem Haupt:
„Willkommen zu Hause, Hoheit!“
Anniek zitterte am ganzen Leib und drehte sich hilfesuchend zu Samuel um. Er schaute ihr ernst in die Augen.
„Anniek, die Königin hat damals keinen Sohn geboren, so wie es alle berichten. Es war eine Tochter. Eine Tochter, die König Odomar in jener Nacht von seinem Botenreiter Gundolf vom Schattenhain in Sicherheit bringen ließ und ihr ein Medaillon mit seinem Zeichen um den Hals hängte. Es war aber nicht aus Gold, so wie meine Nachbildung, es war aus Silber. Und zeigte den Stern mit dem Sichelmond, das Zeichen Burg Sternenmonds. Vom Stern ist nur noch ein Teil übrig geblieben, ein Dreieck. Und der Mond ging wohl auch verloren.“
Er deutete mit seiner Hand auf das Medaillon, das Anniek um den Hals trug.
„Ich bin wirklich Salaniel, der Sohn Darians und habe dich nach langem Suchen gefunden, um dich zu deinem Thron zu führen, Prinzessin Alysia. Königin Alysia.“

—+—

Salaniel blickte in den Spiegel. Es war alles glatt gelaufen. Gundolf vom Schattenhain hatte sein Spiel weiter gespielt. Hatte Untergebenheit geheuchelt, hatte Speisen und Getränke bringen lassen, zu Ehren der Heimkehr der Königin. Sie hatten fürstlich gespeist, sich dann zur Ruhe in die königlichen Gemächer begeben. Morgen wollte Gundolf vom Schattenhain seinem Volk die Rückkehr der Königin verkünden.
Alysia war vor Erschöpfung sofort eingeschlafen. Doch sie würde die Nacht überleben, am nächsten Tag als Königin Alysia von Grünbergen neben Salaniel erwachen. Anders, als Gundolf vom Schattenhain es geplant hatte.
Die Becher mit dem vergifteten Wein hatte Salaniel sofort erkannt und geschickt ausgetauscht. Gundolf vom Schattenhain hatte sein eigenes Gift getrunken. Es würde bald wirken. Der Statthalter würde die Nacht nicht überleben. Aus seinem Schlaf nicht  mehr erwachen. Und Salaniel würde es in der gleichen Sekunde bemerken, wenn das Gift wirkte. So war es geplant. Und so würde es geschehen.
Er nahm den kleinen blauen Samtbeutel aus seiner Tasche und entnahm ihm das kleine metallene Gerät, das eine so große Rolle gespielt hatte. Unbemerkt. Das Gerät, das er immer in seiner Nähe getragen hatte. Fast immer.
Die Minuten vergingen. Dann löste sich der Gegenstand in seiner Hand auf. Er verschwand ins Nichts. Salaniel atmete aus und schloss die Augen. Dann blickte er wieder in den Spiegel. Und sah endlich wieder sein eigenes Gesicht. Das Gesicht Golradirs, dem Gelehrten der geheimen Bruderschaft „Ring des Chronos“. Es war vollbracht.
Leise schlich er aus der Kammer und ging auf den nächtlichen Burghof hinaus, wo eine schwarze Kutsche mit seinen Verbündeten auf ihn wartete.
Einer der beiden kam auf ihn zu.
„Golradir, ist es geschehen?“
„Ja, Emiras, es ist geschehen.“
Emiras sackte vor Erleichterung in sich zusammen und nahm Golradir in seine Arme. Er schluchzte leise. Der dritte Verschwörer kam zu ihnen und legte seine Hand auf die Schultern seiner Bundesgenossen und sagte:
„Die Zeitmaschine, Golradir, sie ist verschwunden.“
„Genau wie der Gestaltwandler. Er hat sich in meiner Hand in Luft aufgelöst. Wir haben es geschafft.“
Emiras sagte leise:
„Wir haben tatsächlich die Zeit zurück gedreht. Und sind nun in ihr gefangen.“
Sie schwiegen einen Augenblick. Dann sagte Golradir mit einem Blick auf die große schwarze Kiste:
„Wir müssen ihn noch nach oben bringen.“
Sie öffneten die Kiste und hoben behutsam Salaniel, den Sohn Darians heraus. Seine Erinnerungen hatten sie beizeiten manipuliert. Gleich nachdem sie ihn auf seiner Reise kurz vor Quellfried abgefangen hatten, um den Lauf der Geschichte zu verändern.
Salaniel würde sich am Morgen an manches nicht erinnern, was geschehen war und an manches, was nicht geschehen war, würde er sich dennoch erinnern. Er würde denken, all das erlebt zu haben, was Golradir in seinem Namen erlebt hatte. Das, was in den Geschichtsbüchern berichtet wird.

Und so geschah, was geschehen musste. Salaniel und Alysia vereinten die Königreiche und führten sie gemeinsam einer Zukunft in Frieden und Wohlstand entgegen.

Und so geschah nicht, was nicht geschehen durfte. Gundolf vom Schattenhain tötete nicht Alysia und Salaniel und schwang sich nicht zum Herrscher beider Reiche auf, läutete nicht eine Zeit der Unterdrückung ein, gründete nicht eine Dynastie, die Jahrhunderte lang mit Schrecken und Gewalt über die Menschen herrschte.
Und so kam es auch nicht zu manch technischer Entwicklung im Zuge der Kriegstreibereien mit weit entfernten Ländern. Und so kam es nicht zur Erfindung der Zeitmaschine. Und nicht zur Gründung der Bruderschaft „Ring des Chronos“, die sich das Ziel gesetzt hatte, das ungeschehen zu machen, was nicht hätte geschehen dürfen.

Der „Ring des Chronos“ hatte seine Bestimmung erfüllt. Bis zu der Zeit, in der ein neuer Gundolf vom Schattenhain geboren wird. Denn es wird immer einen Gundolf vom Schattenhain geben. Er wird vielleicht nicht so heißen, doch ihr werdet ihn erkennen.

 

Fortsetzung gefällig? Die gibt es hier: https://chaosprinz.michael-kuehn.net/der-erbe-der-koenigin/

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert