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Der Erbe der Königin

Die Fortsetzung vom "Erben des Königs" - Geschichte Nummer Zwei einer ganz vage geplanten Trilogie... Und wieder ist es ein Roadmovie geworden... Ich würde empfehlen, den ersten Teil zuerst zu lesen, falls das noch nicht geschehen sein sollte.

Die dunklen Zeiten in einer dunklen Welt waren Vergangenheit. Vorbei der kalte Krieg zwischen Grünbergen und Kupfergrund. Die Zeichen standen auf dauerhaften Frieden und Wohlstand. Nur Golradir fand seit fünfzehn Jahren keinen Frieden. Und über diese Tatsache konnte ihn auch sein wahrhaftig gewaltiger Wohlstand nicht hinwegtrösten.

Seit er, der Reisende aus der Zukunft, das Rad der Zeit manipuliert und auf neuen Kurs gebracht hatte musste er mit einer großen Lüge leben. Auf seiner Reise in der Gestalt Salaniels, des Königs von Kupfergrund, hatte er Herz über Verstand siegen lassen und sich in die künftige Königin Alysia von Grünbergen verliebt. Doch der Platz an ihrer Seite war nicht für ihn bestimmt gewesen. Seine Rolle als Salaniel hatte in dem Moment geendet, als seine Mission erfüllt gewesen war und Gundolf vom Schattenhain, der Feind von Frieden und Einheit der Königreiche, sein tragisches Ende gefunden hatte. Dann nämlich hatte der echte Salaniel, aus dem Schlaf erweckt und versorgt mit einer falschen Erinnerung an die vergangenen Wochen, unbemerkt seinen Platz neben Alysia eingenommen. Und so lebte er, Golradir, genau wie seine beiden Brüder der Gemeinschaft „Ring des Chronos“ nun in einer Zeit, die nicht seine eigene war. In einer Welt, in die er nicht gehörte. Mit dem Wissen der Zukunft und der Vergangenheit.

Es war ein Leichtes für Golradir gewesen, sich in den letzten fünfzehn Jahren am Hofe der Königin in eine verantwortungsvolle Position als deren persönlicher Berater hochzuarbeiten. Sein Wissen, seine Weisheit und sein ruhiges und gütiges Wesen waren bei Königin Alysia und dem gesamten Hofstaat hochverehrt und genauso oft wie gerne gefragt. Seine Gemächer in der anmutigen Burg Sternenmond waren weitläufig und mit großem Pomp und allerlei Annehmlichkeiten ausgestattet.

Burg Sternenmond thronte majestätisch auf den großen, zerklüfteten Felsengebilden am Rande der großen Wälder, die Grünbergen einst seinen Namen gegeben hatten und die auch heute noch einen Großteil des Reiches ausmachten. Golradirs Schreibtisch stand an einem großen, runden Fenster, dessen Sprossen sich zu kunstvollen floralen Mustern verflochten. Golradir blickte oft voller Sehnsucht aus diesem Fenster in die unendliche Weite des Landes.

Der Ausblick, der sich ihm bot, war in der Tat überwältigend: Die Ausläufer der großen grünen Wälder erstreckten sich noch einige Kilometer weit rund um Burg Sternenmond, dahinter waren die weiten Ebenen am Horizont zu erkennen, die weit, weit hinten dann zur ehemaligen Grenzmauer nach Kupfergrund mit seinen wüsten Landstrichen und den unterirdischen Minen führten. Nach links schweifte Golradirs Blick oft weit in die Ferne und verlor sich, noch bevor er die mehrere Tagesreisen entfernten sandigen Hügel der Dünenlandschaft erkennen konnte, hinter der die Klippen zum großen Meer tödlich steil hinab stürzten. Nach rechts erblickte er dann weit hinter den grünen Hügeln gerade noch die Ausläufer der mächtigen Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln, deren Anblick ihn immer wieder aufs Neue seine eigene Nichtigkeit spüren ließen.

Er hatte den Lauf der Zeit verändert. Die wohl mächtigste Tat, die ein Mensch jemals hatte erbringen können. Doch er würde niemals das bekommen, was er sich am sehnlichsten wünschte: Die Liebe der Königin.

Es klopfte. Sein Diener Hailan streckte seinen Kopf ein Stück herein und räusperte sich:

„Verzeiht die Störung. Die Königin möchte Euch sehen. Sie wartet in der großen Halle auf Euch.“

Golradir blickte auf:

„Ich werde gleich bei ihr sein. Nur einen Moment noch.“

Er sammelte die vielen Pergamente mit seinen Notizen ein, die sich wieder einmal über die gesamte Fläche seines massiven Schreibtisches ergossen hatten, und packte sie in eine große hölzerne Kiste. Er verschloss sie sorgfältig mit einem rostigen Schlüssel, den er stets an einer Kette um den Hals trug wie ein kostbares und gleichzeitig etwas schrullig anmutendes Medaillon.

Er eilte mit großen Schritten und wallenden Gewändern die weitläufigen Korridore entlang, dem Thronsaal entgegen. Mit klopfendem Herzen lauschte er dem hallenden Echo seiner Schritte. Wann immer er der Königin gegenüberstand, in ihre Augen blickte und ihre Stimme hörte, bebte es in seinem Brustkorb. Und mehr als einmal hatte er sich dabei ertappt, wie er sich einen Moment zu lange in ihren Augen verloren hatte und wie seine Antwort etwas zu lange auf sich hatte warten lassen, weil er die letzten Worte der Königin nur noch ganz leise und wie durch einen Nebelschleier hindurch gehört hatte. Alysia sah ihn in diesen Momenten immer mit ihrem bezaubernden Lächeln an und sagte:

„Golradir, wo habt Ihr nur Eure Gedanken. Seid Ihr wieder bei Euren geheimnisvollen Forschungen?“ Und dabei bedachte sie ihn stets mit diesem ganz besonderen Blick, der tief durch seine Augen hindurch direkt in sein Herz zu sehen vermochte, so dass er oftmals befürchtete, die Königin bekäme die Wahrheit über ihn und seine Gefühle direkt auf dem Silbertablett serviert.

Heute würde ihm das aber wohl nicht passieren. Die Zusammenkünfte im Thronsaal waren meist höchst offizieller Natur, bei der stets zahlreiche andere hochrangige Personen anwesend waren. Die Königin verhielt sich bei diesen Gelegenheiten immer betont distanziert und geschäftlich. Anders, wenn sie Golradir zu sich in ihre privaten Gemächer rufen ließ. Wenn sie seinen persönlichen Rat suchte, wenn sie sich Geschichten aus anderen Ländern erzählen ließ, wenn sie jemanden zum Reden brauchte.

Ihr Gemahl, der echte und einzig wahre Salaniel, König von Kupfergrund, verbrachte die meiste Zeit auf Reisen. So viel war auch so viele Jahre später noch zu tun, bis die Vereinigung beider Reiche auch in der täglichen Praxis an allen Ecken und Enden funktionieren würde. Salaniel packte mit an, keine Frage. Er war ein guter Mensch, ein guter König, doch ruhe- und rastlos. Und er hatte seine Lust an Abenteuern nie verloren. Im Zweifel würde er den Kontakt zu seinem Volk, zu den Arbeitern und Bauern dem Umgang mit dem Hofstaat auf jeden Fall vorziehen. Noch gab es viel zu tun. Golradir sorgte sich aber, wie es wohl später einmal sein würde, wenn es keine politischen Gründe mehr für seine vielen Reisen geben würde. War die Liebe des echten Salaniel stark genug, um der Königin ein treuer und fürsorglicher Ehemann zu sein? Oder würde ihn seine Abenteuerlust weiter hinaus in die Welt treiben? In die Arme anderer Frauen?

Alysia vermisste ihren Gatten immer schrecklich. Wenn Salaniel auf seinem schwarzen Hengst, seinen Begleitern und Beschützern wie üblich auf den letzten Kilometern einfach davongeritten, nach vielen Wochen der Abwesenheit wieder über die Zugbrücke durch das große Tor in den Burghof einfiel, warf Alysia all ihre königliche Würde über Bord und lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und jubelte vor Freude. Oft stand Golradir dann mit einem Seufzen oben auf den hohen Mauern und blickte mit düsterem Blick in den Burghof hinab. Und dann dachte er bei sich:

„Ihr begrüßt mich auf diese Weise, Königin, nicht ihn… Und Ihr habt mich vermisst, nicht ihn!“

Golradir schüttelte den Kopf, schüttelte die dunklen Gedanken einfach für den Moment von sich ab, holte tief Luft und klopfte an die große Flügeltür zum Thronsaal. Ein Wachposten öffnete ihm von der anderen Seite und ließ ihn ein. Golradir schritt über den mit prunkvollen Fliesen belegten Boden zur anderen Seite, wo die Königin wie immer anbetungswürdig auf ihrem Thron saß. Zwei Wachposten hatten sich an ihrer Seite postiert und ihr Sohn Darian lehnte lässig am steinernen Thronsessel und hatte den wohl gelangweiltesten Gesichtsausdruck der gesamten zivilisierten Welt unter seinem dunklen Lockenkopf aufgesetzt. Golradir hatte den Kleinen immer gern gehabt, hatte ihn aufwachsen sehen, war auch ihm stets ein treuer Berater gewesen. In letzter Zeit aber hatte Darian immer seltener nach ihm verlangt, hatte sich zurückgezogen und sein Interesse an so ziemlich allen großen Themen seiner Zeit verloren. Außer vielleicht an den Töchtern der feinen Gesellschaft. Er war dabei, seine Kindheit zu verlieren. Eine schwierige Zeit. Doch auch diese Zeit würde vorrübergehen.

Erst jetzt fiel Golradir auf, dass sonst niemand in der großen Halle zu sehen war. Das war merkwürdig. Um welchen sensiblen Gesetzesentwurf, um welches brisante politische Problem, um welche geheime technische Herausforderung mochte es wohl gehen?

„Eure Hoheit.“ Golradir deutete eine Verbeugung an.

„Golradir, wie schön, Euch zu sehen.“ Die Königin lächelte ihn wie immer mit ehrlicher Freude an. Darian verdrehte seine tiefbraunen Augen.

„Ich habe Euch in einer sehr vertraulichen Angelegenheit rufen lassen. Wie Ihr wisst, wird Darian in der nächsten Woche fünfzehn Jahre alt. Und nach alter Tradition der Könige von Grünbergen wird er nach seinem Geburtstag für zwei Jahre unerkannt auf Reisen gehen, um das Königreich, seine Bewohner, seine Sorgen und Besonderheiten kennenzulernen. An seinem siebzehnten Geburtstag wird er als Mann zurückkehren.“

Golradir hatte von dieser Tradition gelesen. Und augenblicklich befürchtete er das Schlimmste.

„Auf dieser Reise wird ihn ein Mentor begleiten, der ihm mit Rat und Tat und mit großer Weisheit zur Seite stehen wird.“

Seine Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten.

„Golradir, ich möchte Euch von ganzem Herzen bitten, meinen Sohn auf seiner großen Reise zu begleiten. Schlagt mir diesen Wunsch nicht ab. Ich vertraue Euch voll und ganz. Und ich vertraue nur Euch voll und ganz, das wisst Ihr. Ihr würdet mir einen unschätzbaren Dienst erweisen.“

Golradir musste trotz allem innerlich schmunzeln. Alysia, die Königin, konnte ihm befehlen, was immer sie wollte. Und doch verpackte sie ihre Befehle stets in ein bezauberndes Gewand aus Augenaufschlag, Lächeln und einer wie zufällig aus dem Gesicht gestrichenen goldenen Haarsträhne. Eine mächtige diplomatische Waffe.

„Es wird mir eine Ehre sein, Hoheit.“

Die Kisten waren gepackt und in eine klapprige Kutsche verladen. Sie würden sich als Handelsreisende getarnt auf den Weg machen. Als Handelsreisende, die sich gerade so mit ihrem Geschäft über Wasser halten konnten. Etwas zu armselig und zu schäbig, um das Opfer zahlloser Raubüberfälle zu werden. Und doch wohlhabend und vertrauenswürdig genug, um in den Gasthäusern eingelassen und gut behandelt zu werden.

Der Reisemantel lag schwer auf Golradirs Schultern. In der Ferne kündigte ein schwacher Schein am Horizont den nahenden Sonnenaufgang an. Die Reise in die Ungewissheit begann in wenigen Sekunden und in aller Heimlichkeit. Den Reiseplan hatte Golradir in den letzten Tagen auf die Schnelle entworfen. Einer Spirale rund um Burg Sternenmond gleich würden sie sich durch das Land kämpfen, die Burg immer weiter hinter sich zurücklassen und dann, nach einem Besuch der nur noch als provisorische Behausung genutzten Burg in Kupfergrund auf direktem Wege in dreizehn Tagen zurückkehren.

Darian bewahrte die Fassade des über jeden Zweifel erhabenen Allwissenden, verdrehte gelegentlich die Augen und blickte gelangweilt in die Runde. Doch Golradir wusste, dass er tief in seinem Inneren Angst vor dieser Reise hatte – auch wenn er das wohl nie zugegeben hätte.

Nur eine Handvoll vertrauter Personen hatte sich versammelt, um den Königssohn zu verabschieden. Königin Alysia drückte ihn zum Abschied, was er mit einem erneuten Augenverdrehen quittierte und seiner Mutter höchst offiziell die Hand schüttelte. Kurz und kräftig. Dann umarmte Alysia Golradir. Dies kam für ihn so überraschend, dass ihm die Luft wegblieb. So fest hatte sie ihn seit seiner Rolle als Salaniel vor fünfzehn Jahren nicht mehr gehalten, so nah waren sie sich seitdem nie wieder gewesen. Golradir schlang seine Arme um sie und atmete den Duft ihrer Haare ein. Die Königin verharrte überrascht. Golradir zwang sich, die Umarmung zu lösen, bemühte sich, so neutral wie möglich auszusehen und verabschiedete sich von seiner Königin. Sie blickte ihm noch einmal in die Augen. In ihrem Gesicht konnte er nicht lesen, was sie dachte. Ihr Blick schien verwirrt, doch er drang wieder tief in sein Innerstes vor, als sie ihn ansah. Und dieses Mal servierte er all seine Gefühle auf einem großen Silbertablett und hoffte so sehr, dass Alysia sie erkennen würde.

„Lebt wohl, Golradir!“

Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

„Und kommt wieder zu mir zurück. Ihr werdet hier gebraucht. Von… allen.“

„Können wir dann endlich mal los?“

Darian hatte seinen Kopf aus dem Fenster der Kutsche gestreckt und sah Golradir fragend an.

„Natürlich geht es jetzt los, Prinz. Raus aus der Kutsche. Ihr reist mit mir auf dem Bock. Ich lehre Euch gleich einmal, wie man eine Kutsche lenkt.“

Darian erwies sich als harter Brocken. Die ersten Tage schwieg er beinahe die gesamte Zeit. Golradir versuchte die ausgeklügelsten rhetorischen Manöver, um den Königssohn in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwann gab er auf.

Sie fuhren getreu dem Reiseplan durch die Landschaft. Die grünen Wälder hatten sie recht schnell fürs Erste hinter sich gelassen. Viele Tage führte ihre Reise dann durch die wüsten Ebenen des Landes, an der ehemaligen Grenzmauer vorbei hinüber nach Kupfergrund und in einem Bogen dann zurück Richtung Berge. Sie hielten immer dann an, wenn es etwas zu sehen, zu lernen, zu erklären gab. Sie führten Gespräche mit den Bewohnern des Landes, mit den Arbeitern in den Minen, den Bauern, den Holzarbeitern. Sie übernachteten in den Gasthäusern der kleinen Dörfer, lauschten den Gesprächen über Nöte und Sorgen der anderen Gäste. Golradir bildete sich ein, dass der Königssohn nach einigen Tagen, obgleich noch immer schweigsam, nachdenklicher geworden war. Er begann, Fragen zu stellen. Nicht oft, nicht freundlich. Doch er machte sich augenscheinlich Gedanken. Ob es diese Gedanken waren, die er immer wieder in seinem in Leder gebundenen Notizbuch eintrug vermochte Golradir nicht zu sagen. Darian steckte das Buch immer hastig weg, wenn er seinen Mentor kommen sah.

So erreichten sie schließlich die Ausläufer der mächtigen Berge. Sie nächtigten im letzten Gasthaus vor ihrem anstrengenden Trip durch die unwegsamen Gebirgsketten. Sie fuhren mit der klappernden Kutsche gefährlich nah am Abgrund, holperten über Felsbrocken und durch tiefe Schlaglöcher. Einen ganzen Tag lang waren sie nun schon unterwegs und hatten noch keine Menschenseele getroffen. Die Luft war kalt geworden, Reste von Schnee lagen immer wieder am Wegesrand. In der Ferne sah man eine glutrote Sonne langsam aber sicher am Horizont verschwinden. Darian wurde nervös.

„Wann kommt denn endlich ein Gasthaus, Golradir. Dieses Gewackel hält ja kein Mensch aus!“

Golradir schmunzelte.

„Es wird kein Gasthaus kommen.“

Darian versuchte, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen als er fragte:

„Ja, schön. Und wo werden wir übernachten?“

Golradir zeigte mit dem Kinn nach hinten.

„In der Kutsche? Ist das Euer Ernst?“ Darians Stimme überschlug sich. „Aber ich… ich kann nicht in der Kutsche übernachten. Ich… bin der Königssohn!“

„Habt Ihr Angst, Königssohn?“

Darian schnaubte verächtlich.

„Hier oben wird uns nichts geschehen, Darian. Die Räuberbanden halten sich hier oben nicht auf. Zu selten verirrt sich jemand hier herauf.“

„Und was machen wir dann hier?“ Darian hatte seine Fassung wieder gewonnen.

„Wir lernen, wie man in einer Kutsche übernachtet.“

Golradir hatte das Gefährt auf einem kleinen Plateau mit herrlicher Aussicht zum Stehen gebracht. Er stieg vom Kutschbock, ging nach hinten und kramte in einer der Kisten und brachte einen Bogen mit Pfeilen, ein großes Messer und eine Axt hervor.

„Und wir lernen, wie man sich ein Abendessen besorgt…“

Sie hatten es tatsächlich geschafft, einen Hasen zu erlegen, zu zerteilen und über offenem Feuer zu braten. Und nun lagen sie unter dicken Decken im engen Kutscherhaus auf viel zu dünnen Kissen auf den harten Bänken und versuchten, zu schlafen.

„Golradir, woher wisst Ihr das alles?“ Darians Stimme klang leise durch die Nacht.

„Was meint Ihr?“ Golradir schlug die Augen auf.

„Naja, alles über dieses Land, über die verschiedenen Berufe, die Zusammenhänge. Alles eben.“

Golradir überlegte. Das meiste wusste er tatsächlich aus den Geschichtsbüchern der Zukunft. Er musste schmunzeln als er sagte:

„Ich bin viel rumgekommen, Darian. Ich habe schon viel gesehen.“

„Ihr seid aber noch nicht alt, Golradir. Ihr seid eigentlich noch ziemlich jung. Und seit ich denken kann, seid Ihr jeden Tag auf Burg Sternenmond gewesen. Ich weiß, dass Ihr Euch gerne unter diesen komischen Gewändern des Gelehrten versteckt. Aber so alt könnt Ihr noch gar nicht sein. Ich habe gesehen, wie Ihr Euch bewegt, wie Ihr arbeitet. Wie alt seid Ihr? 30?“

Golradir lachte.

„Nein, 30 bin ich schon eine ganze Weile nicht mehr…“

Da fiel ihm auf, dass er nicht mehr wusste, wie alt er wirklich war. Hatte er überhaupt ein Alter? Er gehörte nicht in diese Zeit. Geboren wurde er viele Jahrhunderte später. Hatte man als Zeitreisender ein Alter? Während er darüber nachdachte hörte er am gleichmäßigen Atmen, dass Darian eingeschlafen war. Gut. Denn so musste Golradir sich nicht mehr weiter mit den Fragen des Königssohnes auseinander setzen. Doch er musste sich wohl darauf gefasst machen, dass dies nicht die letzte Fragestunde zu seiner eigenen Person gewesen sein würde. Wenig später fiel auch Golradir in einen tiefen Schlaf.

Aus diesem Schlaf wurde er jedoch recht bald wieder gerissen, als er Darian laut wimmern hörte. Der Mond schien in das Kutscherhäuschen und Golradir sah, wie der Königssohn sich aufgesetzt hatte und mit weit aufgerissenen Augen ins Leere starrte und am ganzen Körper zitterte.

„Darian, ist alles in Ordnung?“

Darian schien ihn nicht zu hören. Er starrte weiter panisch an die Wand, hob abwehrend seine Hand und stammelte flehend: „Nein, bitte nicht… Hau ab… Hau ab…“

Golradir beobachtete die Szene, wusste nicht recht, was er tun sollte. Wach schien Darian nicht zu sein. Also brachte Golradir ihn mit sanftem Druck dazu, sich wieder hinzulegen, während er versuchte, beruhigend auf ihn einzureden. Und tatsächlich. Der Königssohn fiel wieder in einen ruhigen Schlaf. Bis Golradir wieder Schlaf fand, dauerte es etwas länger, doch am nächsten Morgen erwachte auch er einigermaßen ausgeschlafen, aber mit steifen Gliedern in der kalten Kutsche. Er fand Darian draußen an den Resten des Lagerfeuers in dicke Decken gehüllt, wie er sich die ersten Strahlen der Sonne aufs Gesicht scheinen ließ und in sein Buch schrieb.

„Guten Morgen Darian!“ sagte Golradir.

Darian steckte das Buch weg und drehte den Kopf. Golradir glaubte, so etwas wie ein Lächeln in seinem Gesicht zu sehen.

„Guten Morgen Golradir!“

Golradir lächelte zurück und sagte:

„Dann ist es jetzt wohl Zeit für Frühstück.“

Darian stöhnte.

„Müssen wir wieder jagen gehen?“

„Nein, nein. Wir haben genug zu essen dabei. Wir gehen doch nicht ohne Proviant in die Berge!“

Darians Mund klappte auf. Und wieder zu. Er schien nachzudenken. Dann lachte er. Das erste Mal auf dieser Reise. Golradir zwinkerte ihm zu und sagte:

„Beendet Eure Notizen, Hoheit. Ich bringe etwas zu essen.“

Seit diesem Tag begann sich etwas zu ändern. Darian fasste endlich wieder Vertrauen zu Golradir. Es war fast wie in alten Tagen, als der kleine Thronfolger mit dem königlichen Berater durch die Gänge der Burg tobte und Ritter und Halunke spielte. Dieses Urvertrauen, das sich nur dann entwickeln kann, wenn man lange Zeit miteinander verbringt oder eine geistige Verbindung irgendeiner Art hat, die man sich manchmal selbst nicht erklären kann.

Die Berge hatten sie hinter sich gelassen. Sie tauchten wieder tief in die grünen Wälder des Landes ein und näherten sich langsam aber sicher dem kleinen Dörfchen inmitten dieser verwunschenen Landschaft, in dem das Abenteuer Golradirs vor fünfzehn Jahren seinen Anfang genommen hatte. Sie näherten sich Quellfried.

Sie konnten die Holzarbeiter sehen, wie sie die Baumstämme zu handlichen Brocken verarbeiteten und auf kleinen Flossen die Bäche hinabtreiben ließen. Und am Abend gingen sie in das kleine Gasthaus, in dem nun nicht mehr die Wirtstochter Anniek hinter dem Tresen stand. Denn diese saß in diesem Augenblick in ihrer wahren Identität als Königin Alysia auf dem Thron, viele Tagesreisen weit weg in Burg Sternenmond.

Golradir und Darian saßen lange in der Wirtsstube und redeten, tranken Met und aßen sich satt. Sie unterhielten sich gut. So gut, dass sie nicht bemerkten, wie die zwei in dicke Reisemäntel gehüllten Gestalten an der anderen Seite der Stube immer wieder neugierig herüberblickten und miteinander tuschelten.

Spät in der Nacht gingen sie in ihre getrennten Zimmer. Golradir hatte sich in die kleinere der beiden Kammern zurückgezogen. Nicht aus purer Höflichkeit, sondern weil er es nicht ertragen mochte, in genau jener Kammer zu schlafen, in der er sich damals mit Alysia getroffen hatte.

Der Schrei überraschte ihn mitten in der Nacht. Golradir schrak auf und horchte auf den Nachhall seiner Erinnerung. Hatte er den Schrei geträumt oder war er Wirklichkeit gewesen? Seinem Bauchgefühl folgend sprang er aus dem Bett, riss die Tür auf und stürzte in die Kammer gegenüber, in der Prinz Darian sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Es bot sich ihm ein bekanntes und dennoch schon beinahe vergessenes Bild. Denn Darian saß wieder mit vor Schrecken geweiteten Augen in seinem Bett und versuchte, seine unsichtbaren Dämonen mit den Armen abzuwehren und flehte darum, dass sie ihn in Ruhe ließen. Golradir näherte sich langsam und mit beruhigenden Worten und versuchte, den Königssohn wieder mit sanftem Druck zum Schlafen zu bewegen. Doch kaum hatte er Darian berührt, begann dieser zu schreien und um sich zu schlagen. Tränen liefen über sein Gesicht. Golradir schüttelte ihn und redete auf ihn ein. Endlich verstummte der Prinz. Blickte zu Boden. Blinzelte. Hob langsam den Kopf und flüsterte erstaunt:

„Golradir? Was ist passiert?“

„Das muss ich Euch fragen, Prinz. Was habt Ihr gesehen?“

Darian sah ihn lange an, dann sagte er:

„Ich sehe sie beinahe jede Nacht. Seit vielen Monaten. Sie kommen in meine Träume. Ich weiß nicht, wer sie sind. Was sie sind. Sie machen mir Angst.“

Er hatte sich auf das Bett gesetzt. Golradir setze sich neben ihn.

„Ist alles in Ordnung da oben?“ Die Stimme des Wirtes klang verschlafen und genervt zugleich.

„Ja, es ist alles in Ordnung. Nur ein Alptraum“, rief Golradir. Dann wandte er sich an Darian: „Wer sind sie?“

Darian zögerte. Dann stand er auf, kramte in seiner Manteltasche und reichte Golradir das in Leder gebundene Notizbuch.

„Hier. Ihr dürft. Ich erlaube es.“

Golradir schlug das Buch auf. Er überflog einige Zeilen, blätterte weiter. Er sah die groben Skizzen und Zeichnungen, die Darian angefertigt hatte. Und sein Atem stockte. Sein Verstand vermochte nicht zu deuten, was er sah.

Er bemerkte auch nicht die beiden schwarzen Gestalten, die sich im Türrahmen aufgebaut hatten und nun langsam in die Kammer traten und die Tür hinter sich schlossen.

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Darian sah sie zuerst und seine Augen weiteten sich vor Schrecken. Eine der beiden schwarzen Gestalten packte den überraschten Golradir von hinten und hielt ihm die Hand vor den Mund. Die andere schritt geradewegs auf den Königssohn zu und noch ehe dieser reagieren konnte berührten ihn die Finger des Fremden an verschiedenen Stellen des Körpers und Gesichtes in rascher Folge, woraufhin Darian steif wie ein Brett nach hinten kippte und ohnmächtig auf sein Bett fiel.

Die Hand des anderen Fremden löste sich sogleich wieder von Golradirs Mund, der die Eindringlinge inzwischen längst erkannt hatte.

„Emiras, Liam. Seid gegrüßt. Und erklärt in drei Teufels Namen, was ihr hier zu suchen habt!“

Golradir hatte sich erhoben. Die drei Brüder des „Ring des Chronos“ standen sich das erste Mal seit langer Zeit wieder ungestört gegenüber. Emiras und Liam nahmen ihre großen Kapuzen ab. Emiras grinste:

„Entschuldige, Goli. Ich musste dich kurz zum Schweigen bringen. Wir hatten keine Zeit für Erklärungen.“

„Nun, die habt ihr ja jetzt. Lasst hören!“

Golradir forderte seine Bundesgenossen auf, sich zu setzen.

„Nicht hier. Er schläft zwar, aber sein Unterbewusstsein ist hellwach“, raunte Liam in seiner schroffen Art, hinter der jedoch ein ziemlich einsamer und vor allem schrecklich sensibler Mensch steckte, wie Golradir wusste.

So gingen sie also hinüber in die kleine Kammer Golradirs und setzten sich im Schein einer einzelnen Kerze auf den grob geschnitzten Holzfußboden.

„Es gab Gerüchte“, begann Emiras. „Dass mit dem Prinzen etwas nicht stimmt. Man erzählt sich bei Hofe, dass er langsam verrückt wird. Und als man dich mit ihm auf die Reise schickte, da haben wir uns gedacht – passen wir gelegentlich ein bisschen auf euch beide auf… Und früher oder später musstet ihr ja schließlich hier in Quellfried landen, richtig? Deshalb haben wir hier gewartet.“ Emiras zwinkerte Golradir zu.

„Ich war zwar grundsätzlich dagegen. Aber gegen ein kleines Abenteuer ist ja nichts einzuwenden. Uhrmacher zu sein ist auf Dauer auch nicht immer tagesfüllend“, raunte Liam vor sich hin.

„Aber damit hatten wir nicht gerechnet!“ Emiras zeigte auf das Notizbuch des Prinzen, das Golradir noch immer in Händen hielt. „Lass es uns noch einmal sehen!“

Golradir schlug mit zitternden Händen das Notizbuch des Prinzen auf. Er blätterte zu einer der Seiten, auf denen der Junge seine alptraumhaften Skizzen gemacht hatte. Er hielt Emiras und Liam das Buch hin, so dass sie ebenfalls sehen konnten, was Darian in seinen nächtlichen Träumen begegnete.

„Das ist nicht möglich.“ Emiras war sichtlich schockiert. Liam blickte nur ärgerlich auf die Zeichnungen und raunte: „Na wunderbar. Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“

Emiras schluckte: „Das bedeutet, dass der Ring des Chronos noch nicht gewonnen hat. Wir müssen nochmal ran.“

Sie entschieden in dieser Nacht, dass sie sich wieder trennen würden. Golradir würde mit dem Prinzen weiterreisen als sei nichts geschehen. Emiras würde nach Sternenmond zurückkehren und in der großen Bibliothek, zu der er als königlicher Restaurator Zutritt hatte, nach Hinweisen suchen. Und Liam schließlich sollte als eine Art Kurier stets auf kürzestem Wege zwischen Sternenmond und Golradir pendeln und Neuigkeiten austauschen.

Darian erinnerte sich nicht an die Begegnung mit Emiras und Liam. Liam hatte ihn mit seinem Nervenschocker gründlich ausgeschaltet und eine kleine Amnesie war die gewünschte Folge davon.

Golradirs Aufgabe war nicht einfach. Er musste noch mehr über Darians Träume herausfinden und vor allen Dingen über die Gründe, die dahinter steckten.

Die Skizzen, die der Königssohn angefertigt hatte wiesen schockierende Ähnlichkeit mit den Kriegsmaschinen auf, die viele hundert Jahre später zur großen Katastrophe geführt hätten, wenn der Ring des Chronos nicht den ersten großen Kriegsherren unschädlich gemacht hätte. So war zumindest der Plan gewesen. Wie konnte der Prinz von etwas träumen, das noch nicht geschehen war und – zum Teufel – auch nie mehr geschehen sollte?

Golradir ahnte es. Er ahnte es schon lange. Doch er hatte den Gedanken daran nie wirklich zugelassen. Es gab nur zwei mögliche Erklärungen für die Träume des Prinzen. Entweder hatte dieser in den geheimen Aufzeichnungen Golradirs herumgeschnüffelt. Das war allerdings mehr als unwahrscheinlich. Die Sicherheitsvorkehrungen, die Golradir getroffen hatte waren mehr als ausreichend.

Die andere Möglichkeit war wesentlich beunruhigender. Die zweite Theorie besagte nämlich, dass es sich um die Erinnerungen eines anderen handelte, die den Weg in Darians Träume gefunden hatten. Die Erinnerungen eines Mannes, der den großen Krieg selbst erlebt hatte. Golradirs Erinnerungen. Und in diesem Fall gab es nur eine Erklärung, wie diese Erinnerungen in Darians Kopf gelangt sein konnten – sie lagen in seinen Genen. Ja, Darian konnte Golradirs Sohn sein. Es war ohne weiteres möglich.

Damals, in den romantischen Nächten der langen Reise mit Alysia, als er Salaniel war, da hätte es geschehen können. Er hatte die Königin dazu bringen müssen, sich in ihn, in Salaniel zu verlieben. Doch viel mehr war passiert. Auch er hatte sich verliebt. Und sie hatten ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Er hatte vielleicht das Wissen weitergegeben, das mit den drei Brüdern der Chronos-Gemeinschaft hätte aussterben sollen. An ein unschuldiges Kind, das nun mit den fremden Erinnerungen in seinen Träumen gefoltert wurde.

Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Emiras Eins und Eins zusammengezählt haben würde. Emiras zählte immer Eins und Eins zusammen. Und Golradir fürchtete sich vor dem, was dann geschehen würde.

„Du kannst ihn nicht einfach töten, das ist klar“, sagte Emiras und blickte finster. Golradir fiel ein Stein vom Herzen. Er fühlte sich wie ein Verbrecher, dem ein finsterer Prozess gemacht wurde. Natürlich hatte Emiras Eins und Eins zusammengezählt. Erstaunlich langsam, aber immerhin gründlich. Es waren Monate vergangen, dann erst war Emiras mit Liam im Schlepptau mitten in der Nacht aufgetaucht. Er war wütend gewesen. Und er war noch wütender geworden, als er erkannt hatte, dass Golradir schon lange alles gewusst hatte.

Er hatte sich auch wieder beruhigt. Emiras beruhigte sich immer wieder schnell. Dennoch: Golradir hatte die Mission des Rings gefährdet – und vielleicht sogar zum Scheitern verurteilt.

„Nein, das würde ja auffallen“, raunte Liam. „Außerdem ist das Kind unschuldig. Du musst ihm diese Träume austreiben. Dafür sorgen, dass er sie vergisst. Und sich nie wieder daran erinnert.“

„Aber wir brauchen einen Plan B. Falls es nicht klappt“, seufzte Emiras. „Ich werde daran arbeiten. Ihr habt noch einige Monate auf eurer Reise vor euch. Nutzt sie gut. Wir sehen uns in Burg Kupfergrund. Dreizehn Tage vor dem Ende dieser Reise. Dann werden wir wissen, wie es weitergeht. Liam wird uns wieder auf dem Laufenden halten. Golradir, Bruder – gibt es sonst noch irgendwelche Geheimnisse, die wir wissen müssten?“ Endlich zeigte er wieder sein verschmitztes Lächeln. Nein, einen Emiras konnte so leicht nichts aus der Ruhe bringen.

„Nein, Emiras. Sonst gibt es keine unehelichen Kinder, die ich gezeugt haben könnte. In der Tat war ich in den letzten Jahren recht enthaltsam.“

Von seinen Aufzeichnungen in Burg Sternenmond sagte er lieber nichts.

Darian war erstaunlich schnell erwachsen geworden. Nur noch wenige Tage trennten sie von Burg Kupfergrund. Der letzten großen Station ihrer Reise. Was diese wenigen Monate im Leben eines jungen Mannes doch für entscheidende Eindrücke hinterlassen haben mussten. War Golradir anfangs noch in Sorge über diese Reise gewesen, so wünschte er sich schon seit geraumer Zeit, sie würde niemals enden. Er hatte Darians Vertrauen wieder gewonnen.

Oft hatten sie über Darians Alpträume gesprochen. Golradir hatte in den verschlungenen Windungen seiner Erinnerungen nach allem gekramt, was er über die Psyche des Menschen wusste, über Träume und deren Bedeutung. Und hatte es nach und nach geschafft, Darian davon zu überzeugen, dass all das, was er in seinen Träumen sah, nur die Ausgeburt seiner eigenen Fantasie war, fern jeder Realität und fern jedweder Gefahr. Dass es sich um die Fantasie eines Menschen handelte, der sich mit sich selbst in einem inneren Kriegszustand befand. Golradir wusste, dass man diesen Zustand später einmal Pubertät nennen würde. Aber dieses Wort war noch lange nicht erfunden.

Er meditierte viel mit Darian. Brachte ihm bei, wie er seinen Geist beruhigen und seine Mitte finden konnte. Und wirklich – die Alpträume waren weniger geworden. Und verschwanden schließlich beinahe vollständig.

Gemeinsam waren sie auf ihrer Reise durch die höchsten Hochs und die tiefsten Tiefs gegangen. Im wahrsten Sinne des Wortes – von den höchsten Gipfeln der schneebedeckten Berge hatten ins Land geblickt und seine schier unendliche Weite bewundert. Sie waren sich aber auch nicht zu schade gewesen, in den unterirdischen Minen Kupfergrunds zu arbeiten. Als ganz normale Arbeiter, die ihren Lebensunterhalt ohne Sonnenlicht, ohne größere Pausen, ohne Sicherheit für Leib und Leben und mit größten Anstrengungen verdienen mussten. Sie hatten Bäume gefällt und das Holz auf Flossen die Flüsse hinab transportiert, hatten Felder bestellt, Schafe gehütet, mit den Mönchen gebetet und für die feine Gesellschaft in der Küche geschuftet. Dann wieder hatten sie viele Tage lang an der Küste verbracht. Hatten einfach nur so dagesessen, in die Ferne geschaut und den Wellen gelauscht.

„Wie groß das Meer ist“, hatte Darian dort gesagt. „Was befindet sich wohl auf der anderen Seite?“

„Wir wissen es nicht“, hatte Golradir geantwortet. „Noch nie ist eines unserer Boote so weit gesegelt, bis es auf Land gestoßen ist. Zumindest ist noch keines zurückgekehrt, das davon berichten könnte!“

Golradir wusste natürlich, dass sich noch andere Kontinente in dieser Welt befanden. Doch wie es dort momentan aussah – das war schwer zu sagen. Sie hatten den Lauf der Zeit geändert. Nicht auszuschließen, dass nichts mehr so war, wie es laut seinen Geschichtsbüchern sein sollte. Golradir dachte über dieses Thema in letzter Zeit oft nach. Über die Zeitreise des Chronos-Rings. Über deren Sinn oder Unsinn. Darüber, ob sie schon von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Er schüttelte diese Gedanken aber immer wieder ab und kehrte in den Moment zurück. Denn die Momente dieser Reise hätten schöner nicht sein können.

„Wer seid Ihr?“ Darians Frage war aus dem Nichts gekommen. Golradir hatte zwar damit gerechnet – hatte sich aber noch keine wirklich passende Antwort zurecht gelegt.

„Wie meint Ihr das, Prinz?“ Golradir hatte versucht, auf Zeit zu spielen.

„Seit meiner Geburt seid Ihr da. Ich erinnere mich an Euch, wie Ihr mit mir gespielt habt. Schon immer. Erst wart Ihr immer nur an wenigen Tagen bei Hofe. Irgendwann habt Ihr dann Eure Gemächer in der Burg bezogen und wurdet mein Lehrer. Ich habe mit Euch mehr Zeit verbracht, als mit meinem eigenen Vater. Aber ich weiß nicht, wer Ihr seid. Also – wer seid Ihr?“ Darians Blick war ernst geworden.

„Ich bin ein Reisender, Darian.“ Golradir war seinem Blick hilflos ausgewichen.

„Nein, nein. Das seid Ihr nicht!“ Darian hatte sich erhoben: „Ihr seid 15 Jahre nicht gereist. Ihr wart auch nicht gerade begeistert, als wir diese Reise begonnen haben. Wo seid Ihr damals hergekommen? Wer seid Ihr?“

Golradir war ebenfalls aufgestanden. Hatte Darian lange tief in die Augen geblickt. In Augen, die er so oft gesehen hatte, wenn er als junger Mann selbst in den Spiegel gesehen hatte. Ernste Augen hatten ihn damals aus seinem eigenen Gesicht angeblickt. Augen, die schon zu viel Tod und Verderben gesehen hatten. Augen, die sich nach Frieden gesehnt hatten. Damals hatte er sich dem Ring des Chronos angeschlossen, war danach jahrelang ausgebildet und schließlich auf Zeitreise geschickt worden. Ja, er war wirklich ein Reisender. Er hatte nicht gelogen.

Die Augen, die ihn dort an der Küste angeblickt hatten, sehnten sich nach Antworten. Antworten auf Fragen, die nicht im Detail gestellt worden waren, die aber unbewusst schon lange da waren und zwischen ihnen standen. Golradir hatte Darian die rechte Hand auf die Schulter gelegt. Seine linke Hand hatte sich auf seinem Rücken verkrampft. Er hatte Darian tief in die Augen gesehen und gesagt:

„Ich bin Euer Vater, Darian.“

Kurz hatte er die Fassungslosigkeit in den Augen des Prinzen gesehen. Dann hatte Golradir zusehen können, wie seine eigene linke Hand hinter seinem Rücken aufgetaucht war und Darian mit eben jenen Berührungen ins Reich der Träume und der kurzweiligen Amnesie geschickt hatte, die man als höchster Meister des Rings des Chronos beherrschen musste.

Er hatte den Satz gesagt. Und er hatte diesen Satz noch einmal in die kalte Gischt des Meeres gebrüllt:

„Ich – bin – dein – Vater – Prinz – Darian!“

Dann war er in Tränen ausgebrochen und hatte sich neben Darian in die sandigen Dünen gelegt.

Beim Anblick von Burg Kupfergrund erinnerte er sich voll Traurigkeit an diesen Tag am Meer. Darian konnte sich an diese Situation nicht im Geringsten erinnern. Golradir fühlte sich trotzdem schrecklich wegen dieses Zwischenfalls. Der Satz war aus ihm herausgebrochen und er hatte ihn nicht aufhalten können. Aber Darian steckte die Nervenschocker verdammt gut weg…

Etwas anderes wusste Golradir ebenfalls, als er die hohen Mauern von Burg Kupfergrund vor sich aufragen sah: Emiras und Liam waren schon dort. Das spürte er. Die Entscheidung, was zu tun war, würde bald fallen.

„Die Urne, Golradir, die Urne!“ Emiras hielt ein tönernes Gefäß triumphierend in die Höhe. „Oder das, was wir für eine Urne gehalten haben. Erkennst du das Muster nicht?“

Sie hatten sich mitten in der Nacht in einem schattigen Wäldchen vor den Toren Burg Kupfergrunds versammelt. Und da stand Emiras nun mit der Lösung aller Probleme – wie er sagte – und schwenkte ein urnenähnliches Gefäß durch die Gegend. Golradir blickte irritiert. Etwas kam ihm bekannt vor an diesem Stück Ton. Doch er kam nicht darauf. Liam grinste nur still und wissend in sich hinein und murmelte: „Ich wär auch nicht drauf gekommen…“

Emiras setze sich an das provisorische Lagerfeuer und legte die Urne mit den feinen Verzierungen beinahe andächtig ins weiche Moss zu seinen Füßen:

„Als wir dich vor der Zeitreise in Salaniel verwandelt haben, da haben wir etwas von dessen DNA gebraucht. Und da haben wir diese Urne aus dem Museum entwendet. Die Urne, die bei Ausgrabungen gefunden worden war. Bei Ausgraben in den Überresten von Burg Sternenmond. In einem alten Brunnenschacht. Die Urne muss dort mal hineingefallen und dennoch unversehrt geblieben sein. Und kam dann ins Museum unter Glas. Und wir haben sie gestohlen. Und geöffnet. Aber sie war leer. Dennoch konnten wir DNA-Spuren des Königs finden. Im Museum sah sie zwar nicht mehr so schön farbenfroh aus – aber das Muster, das Muster ist unverkennbar!“

„Wo hast du die her?“ Golradir war verwirrt.

„Aus Salaniels Gemächern. Er ist ja so gut wie nie da. Ich habe ein paar überarbeitete Bücher in seine private Sammlung zurück gebracht. Und da ist sie mir aufgefallen. Und ich habe diesen Plan entwickelt…“

„Ich verstehe den Plan auch nicht ganz, Golradir. Aber Emiras ist sicher, dass er funktioniert.“ Das war wieder Liam.

„Hör jetzt genau zu, Goli“, begann Emiras seinen Plan zu erläutern. „Diese Urne wird in unserer Zukunft gefunden und original verschlossen ins Museum gestellt. Und wir werden sie aufmachen. Aber dieses Mal werden wir eine Notiz darin finden. Eine Notiz von dir, Goli, an dich selbst. Mit der Warnung, dass du deine Gene gefälligst bei dir behältst, wenn du mit der Königin das Bett teilst. Dann wird Darian niemals von dir sein. Lassen wir den echten Salaniel die Arbeit übernehmen. Oder wir manipulieren da irgendwas mit seiner DNA. In der Zukunft haben wir doch Möglichkeiten. Wir bereiten uns ganz anders auf die Zeitreise vor. Dann werden sämtliche Nachkommen Alysias vom echten Salaniel sein oder von wem auch immer, Hauptsache nicht von dir, und das Wissen um die Tötungsmaschinen wird endgültig verschwinden.“

Er hatte sich in Rage geredet und sah ein wenig wirr aus, wie Golradir feststellen musste. Genauso wirr, wie sich sein Plan anhörte.

„Ja, und Darian wird auch verschwinden. Zumindest dieser Darian, der da oben in der Burg schläft!“ Liam schien nicht besonders angetan zu sein von Emiras Plan. „Ich finde, damit töten wir ihn.“

„Wir töten ihn nicht, haha!“ Emiras hatte diese Debatte wohl schon mehrfach mit Liam geführt. „Wir verhindern nur, dass er überhaupt zu existieren beginnt, so ist das nämlich!“

Beide schwiegen und sahen nun Golradir an, als erwarteten sie ein endgültiges Urteil von dem Mann, der die ganze Situation überhaupt so weit verbockt hatte. Golradirs Gedanken kreisten wie auf einem außer Kontrolle geratenen Karussell – und auf einmal sah er inmitten der kreisenden Gedanken das Gesicht Darians, das ihn aus großen, braunen Augen fragend ansah. Und augenblicklich wusste er, was er zu tun hatte.

„Ich weiß, was ich zu tun habe“, sagte er feierlich zu Emiras und nahm ihm die Urne aus der Hand. „Wartet hier auf mich.“

„Halt, nicht so schnell!“ Emiras kramte in seinen Taschen und holte ein Stück Pergament, ein Fässchen Tinte und einen Federkiel hervor. „Das ist alles, was ich auftreiben konnte. Ich hoffe, die Tinte überdauert die Jahrhunderte in der luftdicht verschlossenen Urne!“

Golradir war recht bald zurückgekehrt und hatte Emiras die verschlossene Urne, das Tintenfass und den Federkiel gereicht. „Erledigt“, hatte er gesagt. Sie hatten sich die Hände geschüttelt. Emiras war mit Liam aufgebrochen. Mit einigen Stunden oder gar Tagen Vorsprung wollten sie vor Golradir und Darian auf Burg Sternenmond sein und die Urne vorsichtig im Brunnenschacht versenken. Und damit die Geschichte ein weiteres Mal ändern. Was jedoch genau passieren würde, wusste keiner von ihnen. Würden sie überhaupt etwas von der Manipulation bemerken?

Am Morgen des letzten Tages, nur wenige Kilometer vor Burg Sternenmond erwachte Golradir beim ersten Schein der aufgehenden Sonne. Er meinte, einen Schrei gehört zu haben. Hatte er ihn geträumt oder war es wieder Darian, der von nächtlichen Alpträumen heimgesucht wurde? Nein, er lag friedlich schlummernd auf seinem Nachtlager. Golradir hatte sich bereits wieder umgedreht, als ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag traf. Das Haar des Jungen strahlte in schönstem blond. Sein dunkles, welliges Haar war verschwunden. Golradir trat näher heran. Die Augen, die Lippen. Das waren nicht mehr die seinen. Es waren die Gesichtszüge einer jüngeren Ausgabe Salaniels. Nur die Nase. Die hatte er von seiner Mutter.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit dieser Version 2.0 Darians die letzten Meter zu Burg Sternenmond zurückzulegen. Dieser Darian mochte ihn offensichtlich auch. Sie hatten wohl auch die gleiche Reise hinter sich gebracht. Alles war genau so verlaufen, wie Golradir es in Erinnerung hatte. Nur mit einem anderen Partner an seiner Seite. Seine Gedanken konnte Golradir nicht ordnen. Er hätte schwören können, dass an Emiras Plan etwas faul war. Hatte gehofft, der Plan würde verpuffen wie heiße Luft. Doch er fuhr tatsächlich mit der großen Kutsche über die Zugbrücke in den Burghof ein mit einem neuen Prinz Darian neben sich auf dem Kutschbock, der sich offensichtlich freute, wieder zu Hause zu sein, aufstand und den Leuten in der Burg freudig zuwinkte. Golradir brachte die Kutsche inmitten des großen Innenhofes zum Stehen.

„Da sind wir, Prinz.“ Golradir blickte zu ihm hinüber. Darian sah ihn aus stahlblauen Augen an: „Danke, Golradir. Habt vielen Dank für diese Reise. Ich werde Euch das nie vergessen. Jetzt sind wir wieder zu Hause – kommt, man hat uns bestimmt viel zu erzählen, was sich in der letzten Zeit hier so ereignet hat!“

Er sprang vom Kutschbock und schritt forsch in Richtung der großen Treppe, die zum Hauptgebäude hochführte. Golradir sah ihm nach. Das war ganz sicher nicht sein Sohn. Das war ein Abkömmling Salaniels.

Oben wurde das hölzerne Tor aufgestoßen und Königin Alysia kam freudestrahlend heraus und lief auf ihren Sohn zu. Sie umarmte ihn. Wortfetzen wurden zu Golradir, der noch immer wie gelähmt auf dem Kutschbock saß, hinüber geweht: „…groß geworden… ein richtiger Mann… ganz genau wie dein Vater…“

Dann kam Alysia auf Golradir zu. Wie immer ein Lächeln auf den Lippen. Ein gewohnter Anblick. Und doch – anders. Da waren Wärme, Freundlichkeit und ehrliche Dankbarkeit als sie Golradir die Hand schüttelte, ihn umarmte und sich überschwänglich bei ihm bedankte. Doch da war nicht dieser Blick, der bis tief hinein in Golradirs Herz sehen konnte. Alysia sah ihn nicht mehr so an, wie sie ihn immer angesehen hatte. Und Golradirs Herz zerbrach in tausend Stücke.

+

„Warum hat es nicht funktioniert?“ Emiras lief wie ein Verrückter im Kreis und schritt dann wieder auf und ab. „Ich war mir so sicher!“

Golradir sagte nichts. Er war überglücklich, dass es nicht funktioniert hatte. Wie sich das angefühlt hätte, das hatte er am eigenen Leib erfahren – als er vor einigen Tagen von der Rückkehr nach Sternenmond geträumt hatte und schweißgebadet aufgewacht war, den Blick Königin Alysias noch immer im Kopf, den Schmerz noch immer in seinem Herzen. Schnell war er in jener Nacht hinüber zu Darian gelaufen, hatte sich davon überzeugt, dass die Haare dunkel und die Lippen voll waren. Emiras Plan hatte nicht funktioniert. Und Golradir war dankbar dafür.

Sie standen ein weiteres Mal verschwörerisch mitten in der Nacht im Wald. Die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Sternenmond. Emiras und Liam hatten die Reise dorthin schneller hinter sich gebracht als geplant. Sie waren unermüdlich geritten, hatten die Urne im Brunnen versenkt und waren Golradir dann wieder entgegen gekommen, um sich davon zu überzeugen, dass sich irgendetwas verändert hatte. Doch nichts hatte sich verändert.

Und die Erklärung, die Golradir Emiras gab, klang mehr als einleuchtend. Er hatte schließlich auch viel darüber nachgedacht und sich diese Sätze sorgfältig zurechtgelegt:

„Emiras, es konnte nicht funktionieren. Wir drei sind nicht mehr in der Zukunft. Wir sind hier. Und deshalb können wir in der Zukunft nichts mehr ändern. Dies hier ist schon lange nicht mehr unsere Vergangenheit. Dies hier ist unsere Gegenwart. Unsere Zeit. Nur hier und jetzt können wir etwas ändern. Nicht gestern und nicht morgen. Nur heute. Hier und jetzt, denn nur hier sind wir und werden wir jemals wieder sein… Sieh es ein – wir haben den Lauf der Zeit einmal geändert. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Doch wir sollten dankbar sein, dass wir nicht noch mehr Schaden angerichtet haben. Wir haben mit dem Feuer gespielt und es irgendwie geschafft, dass nicht alles in Flammen aufgegangen ist. Und damit müssen wir es gut sein lassen. Den Lauf der Zeit sollten wir niemals wieder manipulieren. Nur das Hier und Heute – das werden wir beschützen, solange wir hier sind. Und wir werden wohl Schüler ausbilden müssen, die mit dem weiter machen, was wir begonnen haben. Und mein erster Schüler wird Darian sein, mein Sohn, der künftige König von Grünbergen und Kupfergrund.“

Emiras hatte sich damit abgefunden. Hatte tief durchgeatmet und die Hand ausgestreckt. Sie hatten sich die Hände zum Gruße gereicht nach der geheimen Art und Weise, in der sich die Mitglieder ihrer Bruderschaft erkennen. Dann hatten sie sich verabschiedet. Der Ring des Chronos würde durch sie weiterleben. Und jeder von ihnen würde sein bestes geben, das Leben zu beschützen, das ihn umgab. Und diese Aufgabe war groß genug. Und diese Aufgabe würde alle Zeiten überdauern.

Die Sonne ging auf. Langsam aber sicher streckte sie sich aus ihrem Himmelbett und schickte die ersten Strahlen warmen Lichtes über die Gipfel der Berge. Golradir war nicht mehr schlafen gegangen, nachdem Emiras und Liam fortgeritten waren. Er hatte sich hier am Rande des kleinen Wäldchens auf den Boden gesetzt und zugesehen, wie das Licht der Sterne schwächer wurde und der dunkle Himmel immer heller, wie die Welt zum Leben erwachte. Er stand auf und ging langsam zu der kleinen Hütte hinüber, in der sie die Nacht verbracht hatten. Darian war bereits wach.

„Nun geht die Reise zu Ende, Prinz Darian“, sagte Golradir. „Ich hoffe, ich konnte Euch ein guter Mentor sein und Euch ein klein wenig beibringen. Über die Welt, in der wir leben. Und über Euch selbst.“

Darian lächelte.

„Ja, Golradir, das konntet Ihr. Ich freue mich aber trotzdem sehr auf mein Zuhause. Auch wenn ich nicht weiß, wie es sich dort nach diesen Jahren der Wanderschaft anfühlen wird. Aber ich bin auch aufrichtig traurig, dass diese Reise zu Ende geht. Ihr bleibt doch weiterhin unser aller Berater auf Burg Sternenmond, richtig?“

„Natürlich, Darian. Ich werde bei euch bleiben.“

„Da sind nämlich noch viele Fragen, auf die ich Antworten suche. Ich habe viel von der Welt gesehen und über sie gelernt. Und über mich – da habt Ihr Recht. Aber ich weiß noch immer nicht viel mehr über Euch. Glaubt nicht, dass ich vergessen habe, dass Ihr mir immer ausgewichen seid, wenn ich Euch danach gefragt habe.“ Er lächelte. „Aber vielleicht ist das auch in Ordnung so. Ihr werdet Eure Gründe haben, warum Ihr über eure Vergangenheit schweigt. Vielleicht wird irgendwann der Tag kommen, an dem Ihr mir darüber berichten könnt.“

Golradir blickte ihn lange an. Dann nickte er langsam und lächelte:

„Ja, das hoffe ich auch. Von ganzem Herzen.“

Dann ritten sie los. Die Kutsche war voll beladen. Sie schwiegen viel auf den letzten Kilometern, die sie von ihrem Ziel trennten. Bald schon konnten sie die hohen Felsen am Rande der grünen Wälder erkennen. Und da – weit in der Ferne auf dem höchsten Felsen, da sahen sie schon schemenhaft die Umrisse von Burg Sternenmond. Nun war es nicht mehr zu ändern. Die Reise ging zu Ende.

Einige Kilometer noch auf flachen Straßen, dann die ersten sanften Steigungen und schließlich die schattigen, eng verschlungenen Kurven des Zufahrtsweges bis hoch zum großen Burgtor.

Golradir spürte einen Kloß in seinem Hals. Merkwürdigerweise machte er sich erst jetzt Gedanken darüber, was nun geschehen würde. Wie würde ihn Königin Alysia in Empfang nehmen? Hatte sie ihn gar vergessen über all die langen Monate oder hatte sie ihn im Gegenteil sehr vermisst? Würde sie sich offiziell verhalten oder würde sie auf die Etikette verzichten und ihn wieder umarmen? Würde sie sich erinnern, was das letzte Mal geschehen war, als sie ihn umarmt hatte?

Seine Sorgen erwiesen sich zunächst als unbegründet. Kein großes Empfangskomitee wartete auf sie. Man ließ ihnen bestellen, dass sie die Königin in ihren privaten Gemächern aufsuchen sollten. Schnellen Schrittes liefen sie also durch die langen Korridore der Burg, kamen dann an die große hölzerne Pforte, die von zwei Soldaten bewacht wurde. Diese deuteten eine Verbeugung an und ließen Golradir und Darian eintreten. Und da stand die Königin im Schein der untergehenden Sonne, deren Strahlen sich durch die bunt verzierten Fensterscheiben brachen. Golradir hatte fast vergessen, wie schön sie war. Oder war sie über die letzten zwei Jahre noch schöner geworden?

Darian lief zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. Sie flüsterten, begrüßten sich und Golradir meinte, ähnliche Wortfetzen zu hören, wie in seinem Traum vor einigen Nächten. Alysia trat einen Schritt zurück und sagte:

„Lass dich ansehen, Darian – du bist wirklich groß geworden.“

„Ja, Mutter, das stimmt“, unterbrach Darian. „Sag, wo ist Vater?“

Alysias Blick wurde für einen kurzen Moment finster. Doch schnell kehrte ihr Lächeln zurück.

„Er ist mal wieder unterwegs. Er hat sich nicht geändert in den letzten zwei Jahren. Im Gegensatz zu dir. Als du gegangen bist, da warst du… anders. Die Reise hat dir gut getan, habe ich Recht?“

„Ja, ich glaube schon. Golradir war mir der beste Begleiter, den ich mir hätte wünschen können.“

Jetzt erst sah Alysia zu Golradir hinüber.

„Oh, mein Gott, Golradir, wie unhöflich von mir. Entschuldigt bitte. Da steht Ihr so still und unbewegt herum. Kommt her, lasst Euch begrüßen!“

Sie streckte die Arme aus und kam auf Golradir zu. Auch er setzte einen Fuß vor den anderen, so gut ihm das möglich war, ohne zu Stolpern. Dann schloss sie ihn in die Arme und seine verschütteten Gefühle waren schlagartig wieder da, wie durch einen unsichtbaren Schalter angeknipst, die gleiche Wärme, die gleiche Verzweiflung – es war alles wieder da. Und er erwiderte die Umarmung. Diesmal ließ die Königin ihn nicht sofort los. Ob es wenige Sekunden oder endlose Minuten waren, wie sie da so eng umschlungen standen – Golradir wusste es nicht. Doch die Zeit interessierte ihn nicht. Nicht in diesem Moment.

Darian war herangetreten und räusperte sich. Alysia löste die Umarmung, trat wieder einen Schritt zurück und sah auch Golradir aufmerksam an. Und endlich war da auch wieder dieser Blick, dieser alles durchdringende Blick aus ihren bezaubernden Augen, der bis tief in Golradirs Herz zu sehen vermochte.

„Danke, Golradir. Ich danke Euch von ganzem Herzen. Wir werden heute Abend ein Willkommensmahl halten, nur in kleinstem Kreise – und dann werden wir Euren Geschichten lauschen. Ich bin froh, dass ihr wieder da seid. Ihr beide.“

Sie trat noch einen Schritt zurück und sah sie an, die beiden Männer, wie sie so nebeneinander standen. Im Licht der goldenen Abendsonne in den prunkvollen Gemächern der Königin. Darians Haare waren lang geworden. Er trug sie offen, genau wie Golradir. Seine Gesichtszüge waren härter geworden und das Kindliche war beinahe ganz aus seinem Gesicht gewichen. Er war gewachsen, seine Arme und sein Oberkörper wirkten gestählt von der Arbeit und den Anstrengungen der letzten Monate. Alysias Blick wanderte von einem zum anderen. Und Golradir begriff. Sein Blick wurde nervös und er sagte schnell:

„Wir sollten uns noch ein wenig ausruhen und uns für das Willkommensmahl vorbereiten, Königin.“

Hastig verbeugte er sich und verließ die Gemächer schnellen Schrittes. Die nächsten Tage könnten durchaus interessant werden, dachte er bei sich. Seine Schritte wurden langsamer, er begann, tief durchzuatmen und ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Urplötzlich wusste er, dass er nichts zu befürchten hatte und alles gut werden würde. Zum ersten Mal seit langem fühlte er etwas, das sich anfühlte, als würden die vielen Zahnräder in seinem Kopf, in seinem Herzen und in seinem Körper einige Gänge zurückschalten und einfach nur in hellem Glanz erstrahlen.

Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde breiter und es verschwand auch nicht, als er in seine eigenen Gemächer eintrat, in denen Hailal schon ein warmes Kaminfeuer vorbereitet hatte. Alles war so, wie er es verlassen hatte. Mit dem einen Unterschied – es fühlte sich so sehr nach seinem Zuhause an wie noch nie zuvor.

Er trat vor das offene Kaminfeuer und blickte in die Flammen. Dann zog er ein kleines Stück Pergament aus seiner Tasche, eng beschrieben mit schwarzer Tinte. Er trat noch näher an das Feuer heran, ging in die Knie und legte das Pergament vorsichtig an den Rand der brennenden Scheite. Er sah zu, wie sich die Hitze des Feuers langsam in das Pergament fraß und schließlich nichts als ein kleines Häufchen Asche zurück ließ. Leise sagte er zu sich selbst:

„Wie um alles in der Welt hätte ich dich töten sollen, Darian!“

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