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Für Agathe

12.01.:
Heute haben wir das Gebäude zum ersten Mal betreten. Die letzten Wochen waren die Temperaturen hartnäckig unter dem Gefrierpunkt geblieben und daher lässt sich unser erster Eindruck auch nur mit einem Wort beschreiben: eiskalt.
Seit Jahren hatte keiner mehr die Tür zu diesem alten Theater aus dem Jahre 1860 geöffnet. Es hatte die letzten Jahrzehnte leer gestanden. Vor einigen Wochen war es dann plötzlich zum Verkauf gestanden. Für eine lächerliche Summe. Und wir, der Verein zur Förderung der Kultur unserer kleinen Gemeinde, haben tatsächlich den Zuschlag bekommen und uns gegen einen harten Mitbewerber durchgesetzt, der als örtlicher Bauunternehmer das Gelände für einen Parkplatz oder eine Reihenhaussiedlung gut hätte gebrauchen können. Doch zum Glück konnten wir den Ausschuss von unserer Sicht der Dinge überzeugen und ihm die Notwendigkeit der Erhaltung dieses gemauerten Zeitzeugen klar machen.
Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, dieses Relikt einer längst vergangenen Zeit wieder zum Leben zu erwecken und so dem Theater und auch unserer Gemeinde wieder auf die Beine zu helfen. Als Chronist obliegt es mir nun, die Stationen dieses sicherlich langen Weges, der noch vor uns liegt, in Form dieses Tagebuches regelmäßig festzuhalten.
Wir bahnten uns heute also einen Weg durch die Überreste der alten Stuhlreihen, vorbei an großen Kerzenleuchtern, durch zentimeterhohe Staubschichten. Wir kletterten auf die Bühne, schauten in den hohen Bühnenturm über uns, aus dem zu Glanzzeiten die verschiedenen Kulissen herabgelassen werden konnten. Verrostete Ketten und Flaschenzüge hingen als Überreste an der hohen Decke. Überall schimmerten Eiskristalle im Schein unserer Taschenlampen.
Wir hörten ein scharrendes Geräusch und schon krachte ein beachtlicher Mauerstein neben uns auf den morschen Bühnenboden und riss ein großes Loch in die alten Bretter. Der Schreck saß tief, doch wir haben uns nicht davon einschüchtern lassen und unsere erste Entdeckungstour durch eingestaubte, halb verfallene Garderobenräume, Seitengänge und hölzerne Treppenfluchten zu Ende gebracht.
Als Fazit unserer heutigen Erkundungstour steht eines fest: Es liegt eine Menge Arbeit vor uns.

20.01.:
Die letzten 8 Tage haben wir daran gearbeitet, uns einen Überblick zu verschaffen und so viel unbrauchbares Gerümpel wie möglich aus dem Weg zu räumen. Dabei haben wir einige Möbelstücke und andere Teile des Interieurs entdeckt, die wir gerne restaurieren (lassen) würden. Sie werden in einem gut erhaltenen Nebenraum zunächst zwischengelagert.
Erstaunlicherweise haben wir die letzte Woche ohne nennenswerte Zwischenfälle verbracht, was bei einem Gebäude in diesem maroden Zustand nicht selbstverständlich erscheint.
Bis gestern. Denn gestern ist leider etwas passiert, was mich sehr nachdenklich stimmt. Wieder hat sich ein Mauerstein irgendwo aus dem Bühnenturm gelöst und ist diesmal direkt neben mir in die Bretter, die einstmals die Welt bedeuteten geknallt.
Sofort waren die anderen bei mir und schauten nach, ob ich noch alle Gliedmaßen mein eigen nennen konnte. Ich stand sekundenlang unter Schock und merkte kaum, was passierte. Doch ich hörte diese Stimme, die von oben aus dem Turm zu kommen schien und etwas raunte, das nach „Das ist für Agathe…“ klang.
Ich schaute unwillkürlich nach oben und einige andere aus dem Verein folgten meinem Blick. Wir konnten einen Schatten auf der Balustrade hoch oben im Bühnenturm wahrnehmen, der schnellen Schrittes irgendwo im Nirgendwo verschwand. Ich konnte unseren ersten Vorsitzenden Hans Roth etwas von „verdammtes Pennergesindel, haut ab aus unserem Theater“ schreien hören. Tatsächlich hatten wir gelegentlich Spuren von Obdachlosen gefunden, die das Theater wohl als Unterschlupf genutzt hatten. Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass sie sich inzwischen aus dem Staub gemacht hatten.
Wir konnten heute leider nicht weiter nachforschen, wer sich da auf dem schmalen Umlauf im Bühnenturm herumgetrieben hatte, denn wir hatten selbst noch keinen Weg gefunden, ohne Gefahr für Leib und Leben dort hinauf zu kommen. Das enge Treppenhaus war nur zum Teil erhalten und die Reste waren höchst einsturzgefährdet. Wir mussten uns hierfür erst einmal eine provisorische Lösung überlegen.
Was mir aber seit gestern nicht mehr aus dem Kopf geht, ist die Stimme, die ich gehört habe. Leider hat keiner meiner Kollegen diese Stimme hören können. Sie alle waren wohl zu sehr damit beschäftigt gewesen, meinen Gesundheitszustand zu überprüfen. „Agathe? Wer soll Agathe sein?“ war alles, was den anderen dazu einfiel. Sie schoben es kurzerhand auf meinen Schockzustand.
Etwas habe ich aber in dieser Stimme gehört, was mich geängstigt hat. Ich hoffe, dass ich mich irre, doch ich glaube, so etwas wie Wut oder Hass gehört zu haben. Und ich befürchte, dass dies nicht der letzte Unfall gewesen sein wird. Mit den anderen kann ich darüber nicht sprechen – sie halten mich ohnehin für einen etwas merkwürdigen Zeitgenossen.

25.01.:
Wir sind mit dem Ausräumen fertig. Alles, was nicht mehr brauchbar war, konnten wir inzwischen entsorgen. Wir haben einen Handwerker im Ort gefunden, der sich als neuestes Mitglied in unserem Verein der Restaurierung der alten Schätze widmen will. Er hat die Sachen bereits gestern abgeholt und in seiner Halle untergestellt. Wann immer es seine Zeit erlaubt, wird er sich ab sofort um die Stühle, Kronleuchter, Türen und anderen Dinge kümmern.
Heute haben sich meine Vereinskollegen einen Scherz erlaubt, über den ich nicht lachen konnte. Und sie sind zudem zu feige, zuzugeben, wer von ihnen dahinter steckt. Ich habe heute im maroden Treppenhaus gearbeitet, das zum Umlauf oben im Bühnenturm führt. Ich habe versucht, eine halbwegs stabile Steigleiter aus großen Eisenhaken in die Wand zu prügeln. Da habe ich dann plötzlich gesehen, dass jemand mit Asche oder irgendetwas anderem Schwarzen „Es ist für Agathe“ an die Wand geschmiert hatte.
Meine Kollegen haben mich unschuldig und beinahe verständnislos angestarrt, als ich wutentbrannt und vollständig mit weißem Mauerstaub bedeckt auf die Bühne gestolpert bin.
Wenigstens hat es bisher keine weiteren gesundheitsbedrohlichen Zwischenfälle gegeben.

01.02.:
Unfallfreie Tage seit heute: 0.
Unser Kassenwart Klaus liegt mit einer Platzwunde am Kopf im Krankenhaus. Dieses Mal war es ein eiserner Kettenring, der sich verselbstständigt und ihn unglücklich getroffen hat. Der Schatten war wieder da gewesen und Klaus hat mir zugeflüstert: „Ich habe es heute auch gehört“, als man ihn mit der Trage in den Krankenwagen schob. Ich werde ihn morgen unbedingt im Krankenhaus besuchen müssen. Für heute und morgen haben wir die Arbeiten eingestellt. Wir sind der Meinung, dass uns eine kleine Pause gut tun wird.

07.02.:
Es ist unglaublich. Klaus und ich haben etwas herausgefunden, was uns zutiefst erschüttert hat.
Ich habe ihn letzte Woche im Krankenhaus besucht und er hat mir versichert, dass auch er eine wütende Stimme „…für Agathe…“ hat raunen hören.
Klaus konnte das Krankenhaus vorgestern wieder verlassen und wir haben uns die letzten zwei Tage von den Arbeiten im Theater entschuldigt. Wir wollten einer vagen und etwas gewagten Vermutung nachgehen.
Wir begannen, im Stadtarchiv zu recherchieren. Und wir sind nach einigen Stunden relativ schnell fündig geworden und haben dann – als einmal klar war, wonach wir suchen mussten – ein recht vollständiges Bild zusammensetzen können. Aus verschiedenen Quellen haben wir also in etwa folgendes rekonstruiert:
Das Theater war vor mehr als 100 Jahren geschlossen worden, als sich ein tragisches Unglück ereignet hatte. Wahrscheinlich war dieser tragische Todesfall jedoch nur ein Vorwand des damaligen Bürgermeisters gewesen, um diesen sogenannten „Zuschussbetrieb“ endlich loszuwerden.
Damals wurde „Romeo & Julia“ gespielt. In den Hauptrollen Agathe Schuster und Gustav Schwarz. Unbekannte Schauspieler irgendwo aus der Region, auch privat ein Paar. In der Sterbeszene dann der Zwischenfall: Ein Sandsack, wie er als Gegengewicht für die schweren Kulissen benutzt wurde, fiel aus dem Bühnenturm herab und traf Agathe tödlich am Kopf.
Wutentbrannt war Gustav Schwarz über das kleine Treppenhaus hinauf auf die Balustrade gestürmt und hatte einen Kampf auf Leben und Tod mit dem Requisiteur Hermann Weber begonnen, dem er natürlich die Schuld an dem Unglück gegeben hat. Offensichtlich sind beide in diesem Handgemenge über das kleine Geländer gestürzt und auf die Bühne geknallt.
An dieser Stelle sind wir leider auf eine Lücke in den Quellen gestoßen, die wir nicht schließen konnten. Wir nehmen an, dass beide bei diesem Sturz oder an den Folgen gestorben sind. Es finden sich jedenfalls keinerlei weitere Spuren dieser beiden Herrschaften.
Allein die Tatsache, dass das Theater damals schon auf dem absteigenden Ast gewesen war und folglich nur wenige Zuschauer da waren hat dazu geführt, dass diese ziemlich heftige Geschichte nicht allgemein bekannt geworden war. Über die Jahre wurde sie aber wahrscheinlich auch einfach vergessen – in den letzten Jahrzehnten hatten die Menschen aus vielerlei Gründen andere Sorgen.
Was wird nun? Wir wissen es noch nicht. Klaus und ich sind der Meinung, dass uns unsere Vereinskollegen für verrückt erklären lassen, wenn wir ihnen von unserem Verdacht erzählen. Dass nämlich der Geist von Gustav Schwarz in diesem alten Gemäuer umgeht, um den Tod seiner geliebten Agathe zu rächen.

20.02.:
Wir haben den anderen nichts erzählt. Wir haben beschlossen, abzuwarten. Zwei weitere Male ist etwas vom Bühnenturm gefallen, hat aber keinen Personenschaden angerichtet.
Dass etwas geschehen muss, ist den anderen nun auch klar. Wir haben gemeinsam beschlossen, den Verursacher dieser Zwischenfälle zu stellen. Unsere provisorische Treppe haben wir heute erst fertig gestellt, so dass wir ab sofort schnell in den Bühnenturm klettern können, falls wieder etwas geschieht. Wir haben außerdem beschlossen, dass einer von uns ab sofort oben auf der Balustrade versteckt Wache halten wird. Wir sind gespannt.

22.02.:
Dass es so schnell gehen würde, hatten wir nicht erwartet. Wir haben den Verursacher der Unglücke gestellt. Doch kein Geist ist uns ins Netz gegangen. Ein Mensch aus Fleisch und Blut ist für die Zwischenfälle verantwortlich. Johannes Müller, dieser Idiot. Sohn von Bauunternehmer Müller, dem wir das Theater vor der Nase weggeschnappt haben. Hat sich wohl dazu berufen gefühlt, uns aus dem Theater zu vertreiben. Junger, muskulöser Kerl, wenig in der Birne. In seiner Freizeit Freeclimber. Dieser Mensch ist tatsächlich an der Außenwand des Theaters hochgeklettert, durch ein Fenster eingestiegen und hat Sachen auf uns geworfen. Man fasst es nicht. Er sitzt jetzt erstmal in Untersuchungshaft.
Man wird alle Vereinsmitglieder in den nächsten Tagen aufs Präsidium laden und die Aussagen zu Protokoll nehmen. Wenigstens werden wir in den nächsten Wochen ungestört arbeiten können. Klaus und ich sind morgen schon dran mit unserer Aussage bei der Polizei. Mal schaun, wie lange wir da festsitzen werden.

23.02.:
Es ist schrecklich. Für das, was heute geschehen ist, finde ich nur schwer Worte. Ich versuche, alles so knapp wie möglich und dennoch vollständig und klar verständlich wiederzugeben.
Klaus und ich waren heute Morgen auf dem Präsidium gewesen und haben unsere Aussagen zu Protokoll gegeben. Auf dem Weg nach draußen wurde zufälligerweise Johannes Müller von zwei Polizisten an uns vorbei geführt. Klaus ging wie ein wilder Stier auf ihn los und brüllte ihn an.
„Du hättest mich fast umgebracht du Arschloch!“ schrie er. Mehrere Polizisten eilten heran und trennten die beiden Streithähne. Ich konnte mir eine Bemerkung nicht verkneifen. Ich sagte irgendetwas wie: „Na, ihr seid ja fast wie Gustav und Hermann, passt auf, dass ihr nicht zu Tode stürzt…“
Johannes Müller hat mich nur fragend angesehen. Ich hatte nicht erwartet, dass er so hohl im Kopf ist, dass er die Anspielung nicht verstehen würde. Er hatte sich ja schließlich die Rolle des Gustav Schwarz für seine zweifelhaften Aktivitäten ausgesucht.
„Streitet ihr wieder um Agathe?“ stichelte ich weiter. Johannes Müller sah mich mit dümmlichem, aber erschreckend ehrlichem Blick an und blökte: „Was faselst du Zwerg denn da?“
„Na, Agathe Schuster. Die gestorbene Schauspielerin. Du hast doch über sie gelesen. Oder wieso hast du sonst „Für Agathe“ gerufen und auch noch an die Wand gekritzelt?“
„Ich habe schon den Polypen hier erklärt, dass ich keine Ahnung habe, von was ihr Typen hier labert. Ich bin gestern im Vollsuff bei euch eingestiegen und hab euch beworfen, aber ich kenne keine Schlampe namens Agathe und hab nichts mit der Platzwunde von dem da zu tun. Die steht dir übrigens ausgezeichnet. Macht dich ein kleines bisschen männlicher du Pimpf.“
Bevor Klaus ein weiteres Mal auf ihn losgehen konnte, wurde Johannes Müller abgeführt und wir wurden gebeten, zu gehen.
Klaus und ich sahen uns an. Wir dachten wohl beide dasselbe. Wir glaubten Johannes Müller. Und das konnte nur eines bedeuten: Der wahre Übeltäter war noch da draußen. Und vielleicht gerade jetzt dabei, seine Anschläge fortzusetzen, während die anderen aus dem Verein nichtsahnend bei der Arbeit waren.
Wir eilten nach draußen, sprangen in unseren Wagen und preschten mit teilweise fragwürdigen Fahrmanövern zum alten Theater. Wie recht wir mit unserer Vermutung hatten, wurde uns schmerzlich bewusst, als wir den Krankenwagen sahen, der vor dem Theater geparkt hatte.
Auf der Bühne lag unser erster Vorsitzender Hans Roth blutüberströmt mit einer riesigen Wunde am Hinterkopf auf dem Bühnenboden. Eine kleine, aber massive Metallkiste war wohl für das Unglück verantwortlich. Sie war beim Aufprall aufgesprungen und ihr Inhalt hatte sich rund um diese bizarre Szenerie verteilt.
Mein Blick fiel auf ein kleines, schwarzes Buch mit ledernem Einband und den geprägten Initialen „H. W.“ darauf. Mechanisch und ohne weiter darüber nachzudenken hob ich das Buch auf und steckte es unbemerkt in meine Manteltasche. Die Arbeiten im Theater wurden bis auf weiteres eingestellt.

24.02.:
Hans Roth ist tot. Er starb heute Nacht an den Folgen seiner Verletzungen. Die Arbeiten am Theater wurden endgültig bis auf weiteres auf Eis gelegt. Wir wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Die Polizei hat angefangen, zu ermitteln.

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01.03.:
Die Ermittlungen wurden eingestellt. Es waren keinerlei Spuren zu finden. Personen, die ein Motiv hätten haben können (wie zum Beispiel der alte Müller), konnten wasserdichte Alibis vorlegen. Die meisten Vereinskollegen sind dafür, den Verein aufzulösen und das Theater dem ollen Müller zu überlassen. Zum Glück sind das aber nicht alle. Man wird sehen. Nächste Woche ist eine Versammlung angesetzt, auf der entschieden werden soll, wie es weiter geht.

06.03.:
Die meisten Mitglieder – also jetzt Ex-Mitglieder – sind ausgetreten und wollen nichts mehr mit dem Theater zu tun haben. Klaus und ich haben entschieden, dass wir als erster und zweiter Vorsitzender weiter machen wollen. Eine Handvoll anderer Personen hält uns weiterhin die Stange. Die Zukunft des Theaters bleibt aber weiterhin ungewiss.

07.03.:
Das Buch! Ich hatte es bis heute wieder völlig vergessen. Der Frühling war wirklich früh gekommen in diesem Jahr, ich hatte meinen Mantel seit Tagen nicht mehr angerührt. Heute erst ist mir das Buch in der Manteltasche wieder in die Hände gefallen. Das Buch, das ich im Theater hatte mitgehen lassen, als Hans Roth von der Metallkiste getroffen worden war. Und was ich in diesem Buch gelesen habe, ändert vieles.
Es ist das Tagebuch von Hermann Wagner, dem Requisiteur, der sich das Handgemenge mit Gustav Schwarz geliefert hatte. Und was soll ich sagen: Der heruntergefallene Sandsack war kein Unfall gewesen, sondern ein Mordanschlag. Doch nicht Agathe hätte getroffen werden sollen, sondern Gustav Schwarz.
Offensichtlich führten Agathe und Gustav alles andere als eine harmonische Beziehung. Gustav war wohl ein herrischer, cholerischer und unangenehmer Mensch, der seine Überlegenheit Agathe gegenüber gerne und oft mit physischer und psychischer Gewalt demonstrierte.
Agathe fand Trost in den Armen von Hermann Wagner. Sie trafen sich heimlich im Theater, wenn Gustav davon ausging, dass Proben für Agathe auf dem Plan standen. Und gemeinsam hatten Hermann und Agathe wohl geplant, Gustav um die Ecke zu bringen. Doch etwas ging schief. Was genau, das weiß ich nicht. Denn das Tagebuch endet an der Stelle, an der Hermann Wagner den tödlichen Plan niedergeschrieben hat. Das Theater war wohl schon damals in einem besorgniserregenden Zustand gewesen und Agathe und Hermann wollten den Sandsack-Zwischenfall als Unfall tarnen.
Ich stelle mir vor, welchen Schock es in Hermann Wagner ausgelöst haben muss, als er bemerkte, dass er seine geliebte Agathe getroffen hatte. Hatte er sich vielleicht absichtlich mit Gustav Wagner in die Tiefe gestürzt? Um seiner Agathe in den Tod zu folgen? Hatte er in seiner Verzweiflung Romeo und Julia nachgespielt und den verhassten Widersacher Schwarz mit in den Tod gerissen?
Ich weiß es nicht. Aber ich habe eine Ahnung, wie sich die Geschichte abgespielt haben könnte. Und ich werde herausfinden, wie es wirklich war. Ich habe eine vage Vermutung – wieder einmal. Ich werde dem Stadtarchiv wohl noch einen Besuch abstatten müssen.

10.03.:
Ich habe wenig geschlafen. Die Ereignisse haben sich überschlagen. Ich habe alles im Alleingang erledigt. Ich wollte die anderen nicht noch tiefer mit in diese Sache hineinziehen.
Das Theater wurde wenige Jahre nach der Jahrhundertwende geschlossen. Genauer gesagt im Jahre 1913. Ein Jahr vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Das erklärt auch, dass der Zwischenfall im Theater recht schnell in Vergessenheit geraten konnte und es keine weiteren Aufzeichnungen über Hermann Weber und Gustav Schwarz gibt.
Nach langem Suchen habe ich aber doch etwas herausgefunden. Nach dem Ende des Weltkrieges hat ein Herr namens Heinz Weber durch eine großzügige Spende an die Stadt bewirkt, dass ihm das alte Theater überschrieben wurde. Die Stadt konnte das Geld gut gebrauchen für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur. Was die Stadt nicht gebrauchen konnte war ein marodes Theatergebäude, dessen Renovierung Unsummen verschlungen hätte.
Heinz Weber tauchte aus dem Nirgendwo auf. Nichts ist aus der Zeit vor diesem Immobiliengeschäft über ihn herauszufinden. Doch ich habe eins und eins zusammengezählt. Heinz Weber, ein Mann mit den Initialen H. und W. taucht plötzlich auf, kauft dieses alte Gebäude und lässt es die kommenden Jahrzehnte leer stehen. Mir ist klar: Heinz Weber ist Hermann Wagner, der Requisiteur. Er hat den Sturz überlebt. Ist vielleicht geflohen oder wurde für den Kriegsdienst freigestellt. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall kehrte er nach den Kriegsjahren zurück und riss sich das Theater unter den Nagel.
Mir schwirrt der Kopf. Ich habe mir noch keinen Reim darauf gemacht, warum er das tat. Nur aus sentimentalen Gründen? Vielleicht. Ich werde es herausfinden. Ich werde in das Theater zurückkehren müssen, in das wir alle seit über zwei Wochen keinen Fuß mehr gesetzt hatten.

11.03.:
Ich weiß nicht, was mich noch in dieser abstrusen Geschichte erwarten wird. Aber ich habe jetzt ein weiteres Puzzleteil gefunden.
Ich war heute im Theater. Es kam mir sehr unwirklich vor, den alten Saal wieder zu betreten. Auf der Bühne noch die Kreidezeichnung der Polizei mit den Umrissen von Hans Roth. Wie eine Warnung, die mir sagt: Keinen Schritt weiter oder du liegst als nächster dort!
Ich bin die eisernen Steigsprossen in den Bühnenturm geklettert und habe mich auf der Balustrade gründlich umgesehen. Meine vage Vermutung stützte sich zu diesem Zeitpunkt auf eine Kleinigkeit, die den anderen nicht aufgefallen war: Die Metallkiste, die Hans Roth getroffen hat – wo kam sie her? Wir waren auf der Balustrade gewesen, um einen Platz zum Verstecken zu finden, bevor wir Johannes Müller erwischt haben. Und da war nichts. Wir hatten alte Möbelstücke hinaufschaffen müssen, um wenigstens eine Art Versteck zu basteln. Die Mauersteine und Kettenringe, die hinunter gefallen waren, sie kamen eindeutig aus den alten Mauern. Doch wo war die Metallkiste hergekommen?
Mit dieser Frage im Kopf suchte ich also den Umlauf nach Spuren ab. Ich wollte schon aufgeben, als mir etwas auffiel. Löcher in der Wand. Symmetrisch. Jeweils zwei nebeneinander im Abstand von ca. 50 cm, die Paare exakt übereinander immer im gleichen Abstand. Hier war einmal etwas befestigt gewesen. Eine Art Leiter. Steigsprossen wie die, die wir in die Wand des alten Treppenhauses gehauen hatten. Dieser Spur ist die Polizei natürlich nicht nachgegangen. Die Polizei hatte nach einem Menschen gesucht – ich suchte einen Geist. Und ich denke, ich habe ihn gefunden.
Ich machte mich an die Arbeit. Mit Hilfe der alten Flaschenzüge gelang es mir, eine Leiter auf die Balustrade hochzuziehen. Auf der Leiter, die gefährlich steil an der hohen Wand lehnte, stieg ich nach oben. Dorthin, wo die Löcher in der Wand hinführten. Zunächst war ich enttäuscht. Denn die Löcher hörten auf. Einfach so. Da war nichts. Doch dann fiel mir auf, dass sich die Farbe der Wand oberhalb dieser Stelle geringfügig vom Rest unterschied.
Ich brauchte nur sanft dagegen zu drücken und ein Teil der Wand drehte sich um eine vertikale Achse und gab den Eingang zu einem versteckten Bodenraum dahinter frei.
Staub – eine Menge Staub – und der Geruch der vergangenen Jahrzehnte empfingen mich hier. Ich sah im Schein meiner Taschenlampe, dass es sich hier jemand vor sehr langer Zeit recht gemütlich eingerichtet hatte. Einen großen Sessel konnte ich erkennen, ein Tischchen und zwei Stühle, ein Bücherregal. Und ein verschlissenes Himmelbett.
Eine sehr unwirkliche Szenerie und doch so aufschlussreich. Ich wusste es in dem Moment, in dem ich den Raum betrat. Hier hatte Hermann Wagner sich damals heimlich mit Agathe getroffen. Wahrscheinlich war es nirgendwo anders möglich gewesen. Wahrscheinlich hatte Gustav Schwarz Agathe nie aus den Augen gelassen, sie nicht alleine ausgehen lassen. Mit Ausnahme der Theaterproben. Zu Beginn der Erarbeitung eines Stückes ist die Probenzeit aufgeteilt. Die Schauspieler proben dann nicht gemeinsam. Gustav Schwarz schöpfte wohl keinen Verdacht. Und hier haben Agathe und Hermann wohl den Plan ausgeheckt, wie sie auch nach der Zeit der Proben zusammen sein konnten. Indem sie Gustav Schwarz um die Ecke bringen wollten.
Und dies war der Raum, in dem Hermann Wagner auch nach dem Ende des ersten Weltkrieges weiterleben konnte – hier konnte Heinz Weber sein wahres Ich sein.
Doch ein Puzzlestück fehlt noch. Ich spüre es. Es macht keinen Sinn, dass der Geist von Hermann Weber hier umgeht und Dinge auf uns Menschen wirft. Die Metallkiste hatte er irgendwie aus diesem Raum geholt und hinuntergeworfen. Ja, es klingt unglaublich. Ich weiß ja auch nicht, wie Geister so etwas fertig bringen. Aber es musste so gewesen sein. Ich konnte die Umrisse im Staub sehen, da, wo die Kiste noch vor kurzem  gestanden hatte. Er hatte sie mit einer bestimmten Absicht hinunter geworfen. Er wollte seine Geschichte erzählen. Und ich muss den Grund dafür noch herausfinden!

13.03.:
Ich habe sein Testament gefunden. Alles macht nun Sinn. Und ich habe einen Plan, wie ich das Theater retten kann. Einen Plan, der so abgefahren ist, dass ich mal wieder mit keinem darüber reden kann. Nicht einmal mit Klaus. Ich möchte ihn da nicht mit hineinziehen.
Das Testament war in seinem Bücherregal versteckt. Er hatte es während des zweiten Weltkrieges geschrieben, als er bereits ein alter Mann war. Einige Tage vor dem verheerenden Luftangriff, der unsere kleine Stadt teilweise in Schutt und Asche legte. Dabei muss Hermann Wagner gestorben sein. Denn es gibt keinerlei Aufzeichnungen von ihm oder über ihn nach dieser Zeit. Das Theater fiel dann wohl wieder in den Besitz der Stadt zurück.
Hermann Wagner hatte keine Nachkommen. Er hat auch keine Verwandten (mehr?) gehabt. Doch eine Sache erschien ihm so wichtig, dass er ein Testament verfasste. Und diese eine Sache legte er in einem wohl formulierten Satz unmissverständlich fest:
„Hiermit verfüge ich, Hermann Wagner, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass dieses Theater niemals jemand anderem gehören soll, als Agathe Schuster, der Liebe meines Lebens.“
Dieses Testament ist der Schlüssel zu meinem Plan. Ich hoffe, dass er gelingen wird.

05.05.:
Es ist geschafft. Der Geist Hermann Wagners ist besänftigt. Ich habe es gewusst. Dass er uns beworfen hat, um uns aus dem Theater seiner geliebten Agathe zu vertreiben. Er wollte nicht, dass wir es ihm – oder besser ihr – wegnehmen. Das meinte er mit „Es ist für Agathe“. Das Theater. Es gehört ihr.
Als wir nicht zu vertreiben waren, hat er uns den Hinweis mit der Metallkiste gegeben. Und schon wieder einen Menschen getötet. Ich bin mir aber absolut sicher, dass auch dieser tödliche Treffer ein Unfall war. Ich stelle mir Hermann Wagner nicht als gewalttätigen Menschen vor. Im Gegenteil. Trotz aller tödlichen Energie, die in ihm als Mensch und als Geist schlummert. Und daher habe ich das einzig richtige getan: Ich habe das Theater Agathe Schuster gewidmet.
Eine große Steinplatte aus meisterhaft behauenem Granit ziert inzwischen die Außenfassade neben der großen Eingangstüre. Es sind nur zwei Worte eingraviert, doch diese genügen. Da steht nämlich nun, für alle sichtbar: „Für Agathe“.

20.07.:
Die anderen haben bis heute nicht verstanden, was genau es mit der Steinplatte auf sich hat. Doch sie haben gemerkt, dass sich keine Zwischenfälle mehr ereignen. Und daher konnten wir in den letzten Wochen und Monaten viel erreichen.
Die Renovierungsarbeiten sind beinahe beendet. Wir haben Gas gegeben. Vieles ist nicht vollendet, doch das Theater wird bald wieder nutzbar sein. Der Saal ist wieder bestuhlt – teilweise sogar mit den restaurierten Stühlen aus längst vergangener Zeit. Wir haben es geschafft, moderne Leitungen für die Stromversorgung zu verlegen. Wir haben die morsche Bühne erneuert, Scheinwerfer und Tonanlage eingebaut, geputzt und gestrichen. Bühne, Foyer, Saal und Außenbereich sind beinahe vollendet. Garderoben, Seitengänge, Nebenkammern – sie alle werden erst nach und nach an der Reihe sein.
Die alte Kammer unter dem Dach habe ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion versiegelt – den alten Drehmechanismus zubetoniert. Diese Kammer wird mein Geheimnis bleiben. Der Geist Hermann Wagners wird wohl kein Problem damit haben. Ich denke, er kann trotzdem kommen und gehen, wie es ihm beliebt.

15.10.:
Die Proben für unser erstes Stück im neuen Theater laufen auf Hochtouren. Wir haben entschieden, zunächst alles in Eigenregie durchzuziehen. Ich habe ein Stück geschrieben, das von der Liebe eines Bühnenarbeiters zu einer Schauspielerin handelt und tragisch endet. Eine Variation von „Romeo und Julia“. Klaus führt Regie. Einige Vereinskollegen spielen Haupt- oder Nebenrollen. Ein paar Rollen haben wir an motivierte, junge Schauspieler aus der Gegend vergeben, die bereit waren, für wenig Geld für uns zu arbeiten.

26.12.:
Die Premiere war ein voller Erfolg. Wir wollten unbedingt zu Weihnachten mit der Uraufführung des Stückes beginnen. Die Stadt hat bei der Werbung zum Glück mitgespielt, einige Sponsoren konnten wir auch finden. Der Aufstieg des Theaters hat begonnen!
Wir spielen das Stück noch die ganze Woche bis Silvester, jeden Abend. An Silvester wird die vorerst letzte Vorstellung mit großem Mitternachtsbuffet sein.

01.01.:
Ich bin heute Morgen um vier Uhr nach Hause gekommen. Auch die letzte Vorstellung war wieder ausverkauft. Die Silvesterfeier war unbeschreiblich. So viel Leben in diesem bis vor kurzem noch so toten Gemäuer.
Ich bin als letzter gegangen. Ich musste einfach noch einige Minuten alleine sein. Ich bin die alten Seitengänge entlanggelaufen, stand noch einmal auf der Bühne, habe in den Bühnenturm geblickt. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich alles richtig gemacht habe. Hermann Wagners Geist war in diesem Moment bei mir. Ich habe ihn gespürt. Ein Hauch, nicht eiskalt, wie man es sich meist erzählt. Ein warmes Gefühl hat mich erfüllt. Und ich spürte Dankbarkeit. Ich denke, Hermann Wagner wird die nächsten Jahre darauf achten, dass ich hier alles in seinem Sinne abwickle.
Ich bin nun so etwas wie ein Theaterdirektor in einem Theater mit seinem eigenen Geist. Ich denke, jedes Theater braucht solch einen Geist. Ich kann es mir jedenfalls nicht mehr anders vorstellen.
Beim Hinausgehen und Abschließen fiel mein Blick noch einmal auf das Plakat unseres Stückes. Ich hatte schon beim Schreiben gewusst, dass es nur einen Titel tragen kann: „Für Agathe“.

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