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Der Alchemist

Die Kinder nannten ihn nur „Opa Cornelius“. Vor drei oder vier Jahren war der alte Mann, der sich so merkwürdig altmodisch kleidete, aufgetaucht und hatte sich ein kleines Häuschen am Stadtrand gekauft. Die Kinder in der Nachbarschaft beobachteten bei seinem Einzug, wie er viele merkwürdige Gerätschaften, Möbelstücke und Bilder in sein Haus schaffen ließ. Natürlich hatte Opa Cornelius die neugierigen Blicke der Kinder nicht übersehen – er hatte ihnen hinter seinem altmodischen Monokel zugezwinkert und sich nach einem Blick auf seine kupferfarbene Taschenuhr wieder daran gemacht, die Umzugshelfer zu dirigieren.

Damals war es kurz vor Halloween gewesen – und so hatten die Kinder dann auch in der Geisternacht vor der Tür von Opa Cornelius gestanden. Und natürlich war Opa Cornelius vorbereitet gewesen. Nach dem Klingeln war die Tür wie von unsichtbarer Hand geführt und von einem leisen Zischen begleitet aufgeglitten. Ein Schwall weißen Nebels hatte seinen Weg ins Freie gesucht. Das Innere des Hauses war nur von flackernden Öllampen an den Wänden erleuchtet und weit und breit kein Opa Cornelius zu sehen gewesen.
Damals hatten die Kinder zuerst gezögert – und waren dann doch weiter in das Haus vorgedrungen. In einem mit schweren Holzmöbeln und raumhohen Bücherregalen vollgestellten Raum hatten sie eine Gestalt in einem Stuhl sitzen sehen, ihnen den Rücken zukehrend. Als sie näher gekommen waren, hatte sich der Stuhl gedreht, wieder von leisem Zischen begleitet. Ein grinsendes Skelett hatte die Kinder aus leeren Augenhöhlen angestarrt.
Als sie sich unter Schreckensschreien in die Flucht gestürzt hatten, war ihnen Opa Cornelius in den Weg getreten – in der Hand einen Korb voll Süßigkeiten und ein freundliches Grinsen auf den Lippen unter seinem weißen Vollbart.
„Lust auf Süßes?“ Er hatte ihnen den Korb entgegengestreckt. „Und auf eine Schauergeschichte?“
Seit diesem Tag kamen die Kinder öfter zu Besuch zu Opa Cornelius. Er schien sich auch jedes Mal sehr darüber zu freuen, schien sonst keinen Besuch zu bekommen. Und jedes Mal gab es Süßigkeiten und Geschichten aus längst vergangenen Zeiten.
Geschichten von Erfindern, die mit selbstgebauten Flugapparaten die Lüfte erobern wollten, Geschichten von Alchemisten, die wertloses Metall in Gold verwandeln und geheimnisvolle Elixiere entdecken wollten und Geschichten von Forschern und Geisterjägern, die unheimlichen Phänomenen auf der Spur waren.
Und jedes Jahr an Halloween erzählte Opa Cornelius ihnen eine besonders gruselige Geschichte. So auch in diesem Jahr.

„Erinnert ihr euch noch an die Geschichte, die ich euch im letzten Jahr erzählt habe?“ begann Opa Cornelius mit gesenkter Stimme und sieben kindliche Augenpaare sahen ihn gespannt an. Die Kinder saßen auf dem weichen Teppichboden in Opa Cornelius Arbeitszimmer, dem Zimmer mit den hohen Bücherregalen und dem großen Schreibtisch.
Die meisten Kinder konnten sich noch gut daran erinnern, wie sie vor genau einem Jahr hier auf dem Boden gesessen und Opa Cornelius gelauscht hatten. Für die anderen wiederholte er noch einmal in knappen Worten, was er damals erzählt hatte:
Vom unheimlichen Piratenschiff und dessen verfluchten Kapitän, der schon über hundert Jahre alt und doch noch am Leben gewesen und überraschend jung geblieben war – dank eines geheimnisvollen Steines, den er immer bei sich getragen hatte. Von der Besatzung, die aus den schlimmsten Piraten und Halunken bestanden hatte und die Angst und Schrecken auf den Weltmeeren verbreitet hatte. Bis das Schiff schließlich in einer stürmischen Nacht an den Klippen der Küste zerschellt war und den verfluchten Kapitän mitsamt seinem geheimnisvollen Stein für immer in die Tiefe gerissen hatte.
„Ihr habt sicherlich angenommen, dass ich mir die Geschichte nur ausgedacht habe?“ Ein zustimmendes Nicken ging durch die Reihen der Kinder, die sich die Süßigkeiten schmecken ließen.
„Da irrt ihr euch – die Geschichte ist tatsächlich passiert. Naja, vielleicht habe ich die eine oder andere Schauergeschichte dazu erfunden – aber zumindest gab es dieses Schiff und diesen Kapitän. Mein Ur-Ur-Großvater Jonathan Cartwright hat sie erlebt und seinen Nachkommen überliefert. Ich habe doch schon oft von ihm gesprochen, vom Alchemisten?“
„Was ist ein Alchemist?“ fragte eine leise Stimme. Sie gehörte einem kleinen Mädchen, das neu in der Nachbarschaft und das erste Mal bei Opa Cornelius zu Gast war.
„Ein Alchemist – nun, früher, zu Zeiten als mein Ur-Ur-Großvater ein junger Mann war, da glaubte man, man könne mit der richtigen Formel jedes wertlose Metall in pures Gold verwandeln. Stellt euch das mal vor, welch unglaublichen Reichtum das dem Erfinder bescheren würde. Und welcher Gefahr er sich aussetzen würde. Denn natürlich würden alle dieses Elixier haben wollen, wenn es jemals jemand erfinden sollte! Mein Ur-Ur-Großvater hat beinahe sein ganzes Leben an diesem Elixier geforscht. Und an anderen Elixieren. Elixiere, die den Menschen unsterblich machen und vor schlimmen Krankheiten beschützen sollten.“
„So was gibt es ja gar nicht!“ rief das kleine Mädchen.
„Ja, da hast du wohl recht. So etwas gibt es nicht.“ Opa Cornelius grinste.
„Heute weiß man das. Aber mein Ur-Ur-Großvater wusste das nicht. Damals gab es keine Computer, kein Internet, wo man das hätte nachschauen können.“ Er zwinkerte den anderen zu.
„Auf jeden Fall spielt die heutige Geschichte in dieser Zeit. Denn mein Ur-Ur-Großvater hatte einen Freund, seinen besten Freund namens Arthur Townsend, der sich mit außergewöhnlichen Phänomenen beschäftigte. Wenn es irgendwo spukte, wenn irgendwo angeblich Geister umhergingen, dann kam Arthur Townsend vorbei und begann zu forschen. Und fast immer fand er heraus, dass es eine ganz natürliche Erklärung für den Spuk gab.
Nur ein einziges Mal – ein einziges Mal hat er keine natürliche Erklärung gefunden, denn ein einziges Mal hatte er es mit einem echten Geist zu tun. Wollt ihr diese Geschichte hören?“
Ein siebenstimmiges „Ja“ folgte und Opa Cornelius reichte noch einmal den Korb mit den Süßigkeiten herum.
„Dann stärkt euch am besten noch einmal. Wir beginnen mit der Geschichte des Leuchtturmwärters!“

„Der Freund meines Ur-Ur-Großvaters wurde also damals vom Bürgermeister eines kleinen Küstenstädtchens beauftragt, die Vorkommnisse um einen alten Leuchtturm aufzuklären. Der Leuchtturm war schon einige Jahrzehnte außer Betrieb. Jacob Jones war der letzte Leuchtturmwärter gewesen, bevor man den Betrieb aufgegeben hatte. Das lag daran, dass Jones auf merkwürdige Weise ums Leben gekommen war.
Er ist in einer stürmischen Nacht nämlich einfach vom Turm ins Meer gestürzt und wurde dann wahrscheinlich weit hinaus getrieben. Man hat ihn nie gefunden. Es fand sich dann niemand mehr, der bereit war, in diesem wie die Leute sagten „verfluchten“ Turm Dienst zu tun. Jacob Jones war ein Mann in seinen besten Jahren und hatte schon viele Jahre Dienst geschoben auf diesem Turm – dass er einfach so hinabgestürzt war, konnte sich keiner vorstellen.
Im Zimmer des Leuchtturmwärters fand man damals den Mantel einer Frau. Sofort begann die Suche nach ihr. Man hat auch sie nie gefunden.
Und dann fing es ja auch schon an:
In besonders stürmischen Nächten leuchtete ein helles Licht auf der Spitze des Leuchtturmes in die See hinaus. Man hatte natürlich Untersuchungen angestellt, hatte die alte Gaslampe untersucht, die garantiert nicht mehr leuchten konnte. Auch fand man keine Spuren von einem Lagerfeuer oder so etwas.
Wachen wurden aufgestellt, zuerst unten an der Tür, später auch oben bei der alten Gaslampe. Einige Wachen sind geflohen und nie wieder aufgetaucht, ein paar andere weigerten sich, über das zu sprechen, was sie auf diesem Leuchtturm erlebt hatten.“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause und forderte die Frage der Kinder geradezu heraus: „Aber was hatten die Wachen denn oben im Turm erlebt?“
„Nun, das weiß man nicht so genau. Aber nach allem, was Arthur Townsend später so herausfand, hatten sie wohl einen Geist gesehen.“
Das kleine Mädchen kuschelte sich bei diesen Worten etwas enger an den Jungen neben ihr, was diesem gar nicht gefiel.
„Arthur wurde also, als das geisterhafte Leuchten auch Jahrzehnte nach dem Tod von Jones nicht aufgehört hatte beauftragt, herauszufinden, was in diesem Leuchtturm vor sich ging. Nachdem er eine fürstliche Anzahlung erhalten hatte, begab er sich zusammen mit meinem Ur-Ur-Großvater in den Turm an der Küste. Die beiden untersuchten zunächst einmal alles ganz genau, fanden aber nichts heraus. Oben auf der Spitze des Turmes hatte man die alte Gaslampe inzwischen entfernt, da war nichts mehr, was hätte leuchten können.
Man konnte oben auf der überdachten Plattform einmal komplett um die Feuerstelle herumlaufen. Früher, also noch vor der Zeit meines Ur-Ur-Großvaters, hatte man dort oben tatsächlich ein Feuer entzündet, um die Schiffe vor den gefährlichen Klippen zu warnen. Später dann gab es große Gaslampen, und noch später dann elektrisches Licht, so wie heute.
Aber auf diesem alten Leuchtturm gab es nichts, was darauf hinwies, dass er noch in irgendeiner Weise in Betrieb war.“
Die Spannung unter den Kindern wuchs. Einige rutschten nervös und gespannt auf ihrem Hintern herum und griffen vorsorglich noch einmal in die große Schüssel mit Süßigkeiten.
„Also legten sich die beiden mit dicken Decken gegen die Kälte geschützt zum Schlafen hin. Nachdem sie beide eingenickt waren, zog ein kleiner Sturm auf. Das ist an der Küste nicht ungewöhnlich.
Ungewöhnlich war, dass mein Ur-Ur-Großvater und der Geisterjäger an einem hellen Licht aufwachten, ein Licht, dass von der Feuerstelle in der Mitte der Plattform kam. Bevor sie sich ihre Augen reiben konnten, um den Schlaf herauszuwischen, war das Licht aber auch schon verschwunden – nur ein kleiner, blasser Lichtschein schien die Treppen in das Innere des Turmes hinabzuschweben.
Augenblicklich waren die beiden Männer hellwach, sprangen auf und eilten dem Licht hinterher, das in unglaublicher Geschwindigkeit die Treppen hinunterglitt und in der ehemaligen Schlafkabine des Leuchtturmwärters verschwand. Durch die geschlossene Tür!“
„Durch die geschlossene Tür?“
„Wie kann das denn sein?“
„Sowas geht ja gar nicht!“ Die Kinder riefen durcheinander.
„Oh doch, das geht. Mein Ur-Ur-Großvater hat es selbst erlebt und er hätte jeden Eid geschworen, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat.
Die beiden konnten in dieser Nacht zunächst nichts entdecken, nachdem sie die Tür zur Schlafkabine geöffnet hatten. Sie durchsuchten alles genau. Was sie dann aber doch fanden war eine alte, durchrostete Öllampe, die sich merkwürdigerweise ganz warm anfühlte, so, als ob sie vor nicht allzu langer Zeit noch gebrannt hätte. Sie stand auf dem Nachttisch neben dem Bett. Alles war natürlich mit dickem Staub überzogen. Alles, außer der Öllampe.
Als die beiden den Nachttisch näher untersuchten, entdeckten sie das Tagebuch des Leuchtturmwärters in einem Geheimfach. Dieses Geheimfach hatte vor ihnen wohl keiner entdeckt – oder man hatte einfach nicht gründlich genug gesucht. Oder suchen wollen.
Dieses Tagebuch gab dann auch Aufschluss über die Geschehnisse dieser verhängnisvollen Nacht, in der Jones ums Leben gekommen war.
Wollt ihr noch Süßigkeiten? Ich fülle euch nochmal nach!“
Opa Cornelius ließ die Kinder mit offenen Mündern sitzen und ging betont langsam nach nebenan, um die inzwischen leer gefutterte Schüssel mit Süßigkeiten nachzufüllen. Im Laufe der Jahre hatte er die Erzählweise dieser Geschichte immer weiter verfeinert. Eine Pause an dieser Stelle, an der die Spannung am größten war, machte ihm immer wieder eine diebische Freude.
Er kehrte zurück, stellte die Schüssel ab und dachte auffällig lange nach.
„Das Tagebuch, was stand denn drin?“ Das kleine Mädchen konnte sich nicht länger zurückhalten.
„Ja, richtig. Das Tagebuch. Nun, man fand heraus, dass sich Jacob Jones in der Nacht des Unglücks mit einer Frau getroffen hatte, die bei ihm die Nacht verbringen wollte. Das war streng verboten, denn er hatte ja Dienst und musste nach Schiffen Ausschau halten und rechtzeitig die Lampe entzünden. Arthur Townsend und mein Ur-Ur-Großvater fanden aufgrund der Tagebucheintragungen heraus, wer die Dame gewesen war.
Es dauerte einige Tage, bis sie den Aufenthaltsort der inzwischen sehr alten Dame herausgefunden hatten. Rosalie Eltringham wohnte gar nicht weit entfernt.
Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte die auffallend jung gebliebene Dame ihnen, was damals geschehen war.
In dieser mysteriösen Nacht hatte der Leuchtturmwärter nämlich etwas anderes zu tun gehabt, als nach Schiffen Ausschau zu halten. Er war, nunja, mit Rosalie in seinem Zimmer gewesen.
Doch es war ein Schiff gekommen – und keiner hatte diesem Schiff den Weg geleuchtet. Es ist dann vom Kurs abgekommen und an den Klippen zerschellt.
Dieses laute, berstende Geräusch war bis in das Zimmer des Leuchtturmwärters zu hören gewesen. Jacob Jones war aus seinem Bett gesprungen und die Treppe hinauf zu seiner Feuerstelle gehastet, er hatte das sinkende Schiff gesehen und in panischer Angst die Gaslampe entzündet.
Wie von Sinnen hatte er dann am Geländer der Plattform gestanden und mit beiden Armen gewunken und geschrien.
Er hatte seinen Dienst immer gewissenhaft verrichten wollen und in dieser Nacht hatte er den Untergang eines Schiffes verschuldet. Das wollte damals wohl nicht in seinen Kopf gehen.
Rosalie hatte ihn vom Geländer wegziehen wollen, über das er sich bereits gefährlich weit hinausgebeugt hatte. Doch er hatte sich ihrem Griff entwinden können und war gefallen. Aus Absicht oder aus Versehen? Das konnte auch Rosalie nicht genau sagen. Jones war jedenfalls in die Tiefe gestürzt, war auf die Felsen aufgeschlagen und dann ins Meer geschleudert worden…“
Das kleine Mädchen steckte den Kopf in den Pullover und begann zu weinen. Das war zu viel.
„Rosalie Eltringham war in dieser Nacht so schnell wie möglich aus dem Leuchtturm geflohen. Erst viele Wochen später hatte es sie wieder in das Küstenstädtchen gezogen. Sie hatte den Leuchtturmwärter wirklich geliebt und sein Schicksal bedrückte Rosalie zu dieser Zeit besonders schwer.
Sie traf auf einen Mann, einen Seemann, als sie die Klippen unterhalb des Leuchtturms entlangging. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann zur Besatzung des gesunkenen Schiffes gehört hatte und wohl als einziger Überlebender in diesem Städtchen gestrandet war und sich mit Betteln und Stehlen über Wasser hielt.
Er erzählte ihr, wie das Schiff in jener Nacht an den Klippen zerschellt war, weil sie kein rettendes Leuchtfeuer rechtzeitig gewarnt hatte.
Rosalie hielt es für besser, ihm nicht zu erzählen, wer sie war. Nämlich der eigentliche Grund für das ausbleibende Leuchtfeuer. Aber sie hatte Mitleid mit ihm. Oder wurde von Schuldgefühlen geplagt. Jedenfalls hat sie dem Seemann etwas Geld zugesteckt und in der Dorfkneipe einen ausgegeben. Das machte den alten Halunken redselig und er erzählte von seinem versunkenen Schiff, seinem verfluchten Kapitän und dem geheimnisvollen Stein, der den Alterungsprozess verlangsamen konnte.
Rosalie hat daraufhin mehrfach Taucher beauftragt, nach diesem geheimnisvollen Stein zu suchen. Doch die Strömung hatte inzwischen alles weit ins Meer hinausgetrieben und außer einigen Trümmern und wertlosem Ramsch wurde nichts gefunden.
Rosalie war danach nie wieder in die Nähe des Leuchtturmes gegangen!“
Die Pause fiel nun eher kurz aus. Opa Cornelius hatte seinen Spaß schon gehabt. Er holte tief Luft und erzählte weiter:
„Townsend und Cartwright gingen daraufhin in die Stadtbibliothek und recherchierten. Doch von einem gesunkenen Schiff war nichts bekannt. Auch war damals wohl kein Schiff als vermisst gemeldet worden. Man wälzte alte Hafenbücher und Schiffsroutenpläne.
Nach einigen Tagen in der Bibliothek fanden die beiden heraus, dass es sich wohl um ein Schmugglerschiff gehandelt hatte, oder um Piraten. Ein Schiff, das keiner vermissen konnte, weil es offiziell gar nicht existiert hatte. Ein Schiff, das abseits aller bekannten Routen gefahren und so der Küste gefährlich nah gekommen war. Und diese Tatsache brachte Arthur Townsend dann auf den rettenden Einfall.“
Opa Cornelius räusperte sich. Die Geschichte dauerte länger, als er gedacht hatte. Er fühlte sich matt. Doch die leuchtenden Augen der Kinder ließen ihn im gleichen Moment seine lähmende Müdigkeit vergessen. Diesen Kindern war er ein fulminantes Finale schuldig!
„Townsend kam auf die Idee, dass es sich beim Verursacher des geheimnisvollen Lichts wohl tatsächlich um den Geist des Leuchtturmwärters handelte. Und dass er in stürmischen Nächten den Schiffen draußen auf See leuchten wollte, um seinen fatalen Fehler wieder gut zu machen. Und dass man ihn vielleicht davon abbringen konnte, dies noch weitere Jahrzehnte und Jahrhunderte zu tun, wenn man ihn davon überzeugen konnte, dass dieses Schiff gar nicht hätte da sein dürfen und dass es, um nicht entdeckt zu werden, gefährlich nah an der Küste gefahren war.
Die beiden holten sich noch einmal Hilfe von Rosalie Eltringham. In der nächsten stürmischen Nacht warteten sie also alle zusammen, bis das Licht der alten Öllampe die Treppen heraufschwebte und wie aus dem Nichts ein helles Licht in der Mitte der Plattform erschien.
Rosalie rief Jacob bei seinem Namen, mehrmals. Townsend und mein Großvater sahen, wie sich die Öllampe auf Rosalie zubewegte und nun erkannten sie auch die schemenhafte Gestalt des Leuchtturmwärters, der als Geist zurück gekommen war, um in stürmischen Nächten ein Feuer zu entzünden.
Die beiden erfuhren leider nie, was Rosalie zum Geist des Leuchtturmwärters gesagt hat, denn sie standen ein Stückchen weiter weg, um den Geist nicht zu erschrecken.“
Das kleine Mädchen kicherte. „Wie kann man denn einen Geist erschrecken?“
„Naja, manche Geister wissen gar nicht, dass sie Geister sind. Jacob Jones war besessen davon, seine Schuld gut zu machen, so dass er einfach in jeder stürmischen Nacht aus seinem Bett aufsprang, die Öllampe entzündete und auf die Plattform eilte. Und da würde er doch mehr als erschrocken reagieren, wenn plötzlich viele fremde Menschen auf seinem Leuchtturm herumstehen würden.
Naja, jedenfalls brachte Rosalie Jacob dazu, mit seinem Wahnsinn aufzuhören. Sie überzeugte ihn, dass ihn keine Schuld traf – ein Schiff, das nicht hätte da sein dürfen und zu nah an der Küste gefahren war hätte auch ein rechtzeitiges Leuchtfeuer nicht retten können.
Der Geist von Jacob Jones löste sich jedenfalls in dieser Nacht in Luft auf und kam nie wieder.
Das einzige, was geblieben war, waren die Tagebuchaufzeichnungen bis zu seinem Tode und die alte Öllampe. Zwei Andenken, die Rosalie Eltringham mit sich nahm.
Townsend und mein Großvater bekamen ihre verdiente Belohnung und zogen weiter zum nächsten Fall. Den ich aber erst nächstes Mal erzähle.“
Ein protestierendes „Ohh!“ ging durch die Kinderschar. Doch Opa Cornelius war geschafft.
„Ihr müsst jetzt gehen, Kinder. Ich bin müde und ihr habt noch ein paar Häuser vor euch, in denen die Menschen erschreckt werden wollen!“
Unter großem Bedauern verabschiedeten sich die Kinder mit großen Augen und mit vor Aufregung leuchtenden Wangen von Opa Cornelius.

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, seufzte Opa Cornelius lächelnd. Es strengte ihn jedes Mal an, lange Geschichten zu erzählen, doch das war es wert.
Er trat an sein Bücherregal, zog an einem Bildband und unter leisem Zischen glitt eine dampfbetriebene Klappe herunter, die ein kleines Geheimfach verdeckt hatte. In diesem Fach lag eine schön verzierte, antike Holzkiste mit geschnitzten Initialen. J.C.C. – Jonathan C. Cartwright.
Darin lag ein kleiner, in Stoff eingewickelter Gegenstand, über den Opa Cornelius beinahe zärtlich seine Finger gleiten ließ und zufrieden lächelte.
Er hörte ein Geräusch hinter sich und blickte erstaunt in die braunen Augen des kleinen Mädchens, das neu in der Nachbarschaft war. Sie erschrak, als Opa Cornelius sie entdeckte. Er schloss schnell die Kiste in seinen Händen und stellte sie auf den Schreibtisch.
„Hab keine Angst“, sagte er gütig. „Wie heißt du?“
„Ich bin Amelie“, stotterte das Mädchen kleinlaut.
„Warum bist du noch einmal zurück gekommen, meine Kleine?“ er sah sie freundlich an.
„Naja, wegen… Ich möchte nicht weiter draußen sein. Ich möchte lieber noch eine Geschichte hören…“
Opa Cornelius musste lächeln. „Ich soll dir noch eine Geschichte erzählen?“
„Ja… Vielleicht über diese Kiste da – was ist denn da drin? Du hast sie so schnell zugemacht, als du mich gesehen hast. Ist die Kiste eine geheime Kiste?“
Opa Cornelius seufzte. Er fasste den Entschluss, dass es gut tun würde, endlich mal wieder über bestimmte Dinge zu sprechen. Und sei es nur mit diesem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft.
„Das hier ist die Kiste meines Ur-Ur-Großvaters Jonathan Cartwright. Darin befindet sich etwas sehr wertvolles. Etwas, das einmal dem Kapitän des versunkenen Piratenschiffes gehört hatte. Etwas, das er immer bei sich getragen hatte. Du kommst bestimmt darauf, was es ist…“
„Aber der geheimnisvolle Stein… Der ist doch untergegangen – und weggespült worden?“
„Nicht in Wirklichkeit. Das ist die Geschichte, die sich Jonathan Cartwright ausgedacht hatte, falls man ihn darauf ansprechen sollte. Um die Wahrheit zu verschleiern, weißt du. Tatsächlich hatte der gestrandete Seemann den Stein retten können. Weil er dringend Geld brauchte, hat Rosalie ihm den Stein abgekauft. Aus schlechtem Gewissen. Doch sie hatte keine Ahnung, um was es sich dabei handelte.
Mein Ur-Ur-Großvater hat aber Eins und Eins zusammengezählt. Rosalie schenkte ihm auf seinen Wunsch hin diesen Stein. Als Dank dafür, dass er geholfen hatte, den Geist ihres Geliebten zu erlösen. Jonathan Cartwright hatte es gleich erkannt: Es war der sogenannte Stein der Weisen.“
Amelie konnte die Bedeutung dieser Worte nicht verstehen. Wie auch.
„Möchtest du einen warmen Kakao?“ Opa Cornelius stand unvermittelt auf und ging in die Küche. Er hatte beschlossen, Amelie noch mehr zu erzählen. Es tat gut, über etwas zu sprechen, über das man eigentlich nicht sprechen sollte. Die wenigen Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit, die er in die warme Milch tropfen ließ würden Amelie nicht schaden. Doch sie würden dafür sorgen, dass sie schon bald nichts mehr von dem wusste, was er ihr gleich erzählen würde. Das Elixier des Vergessens. Eines der einfachen Rezepte, die mit dem Stein der Weisen möglich waren.
Amelie nahm dankbar einen großen Schluck warmen Kakao aus ihrer Tasse.
„Weißt du, der Stein der Weisen ist ein geheimnisvoller Stein, der schon viele Millionen Jahre auf der Erde existiert und dem man geheimnisvolle Kräfte zuschreibt. Eine davon ist, dass er den Alterungsprozess verlangsamt. Er kann ihn nicht aufhalten, doch er sorgt dafür, dass ein Mensch noch viel älter als hundert Jahre werden kann.
Wie er in den Besitz des Kapitäns gekommen war, weiß ich nicht. Darum ranken sich viele Geschichten und Sagen. Was davon stimmt und was nicht kann keiner mehr genau sagen. Aber wichtig ist letztendlich auch nur, dass durch viele große Zufälle Jonathan Cartwright den mächtigsten Alchemistenstein des Universums schließlich in den Händen halten konnte.
Mit der Hilfe des Steins konnte er Metall in Gold verwandeln. Und viele geheimnisvolle Elixiere herstellen. Für die Erforschung der Rezepte hat mein Ur-Ur-Großvater beinahe sein ganzes Leben gebraucht.
An einem Rezept hat er aber vergeblich geforscht. Am Rezept für das Lebenselixier, das die Kräfte des Steines intensivieren konnte. Das Lebenselixier, das unsterblich macht, wenn man es immer und immer wieder regelmäßig trinkt. Der Traum eines jeden Alchemisten. Aber es wird wohl für immer ein Traum bleiben.
Jedenfalls habe ich jetzt den Stein der Weisen. Und kann all die wunderbaren Rezepte verwenden, die Jonathan Cartwright entdeckt und aufgeschrieben hat.“
Amelie sah ihn mit großen Augen an. Fasziniert und etwas ängstlich zugleich.
„Versprichst du mir, dass du niemandem davon erzählst?“
Amelie nickte eifrig.
„Gut. Ich glaube dir. Jetzt wird es aber Zeit, dass du wieder nach draußen gehst. Die anderen suchen dich bestimmt.“
Amelie rannte schnell nach draußen.

Als sich die Tür geschlossen hatte, öffnete Opa Cornelius wieder die Holzkiste mit den geschnitzten Initialen. Er nahm den Stein der Weisen heraus und klappte einen versteckten doppelten Boden herauf. Darunter standen viele kleine verkorkte Fläschchen mit einer grünlichen Flüssigkeit darin fein säuberlich in Reih und Glied. Opa Cornelius nahm eine heraus, zog den Korken und setzte die Flasche an seine Lippen, trank sie in einem Zug aus.
Er schloss die Kiste und strich mit der Hand über die geschnitzten Initialen, die seine eigenen waren: Jonathan Cornelius Cartwright.
Er wünschte, er hätte die Formel für das Lebenselixier einige Jahrzehnte früher entdeckt – dann könnte er jetzt als immer-junger Mann durch die Lande ziehen und nicht als Opa Cornelius sein Dasein fristen. Als Opa Cornelius, der alle zehn Jahre umzieht und den Kindern in jeder neuen Stadt dann Geschichten aus einer anderen Zeit erzählt. Aus seiner Zeit.
Immer wieder und wieder.
Endlos.
Zumindest bis zu dem Tag, an dem er entscheiden wird, kein weiteres Fläschchen mehr zu trinken. Denn an diesem Tag würde er sterben.

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