"Aaron Pfundeisen",  Alle Texte,  Geschichten

ALTE GESCHICHTEN Kapitel 5

Eine leise Melodie

Um dieses Kapitel zu verstehen, sollte man sich unbedingt die vorangegangenen Teile meines Fortsetzungsromans "Alte Geschichten" zu Gemüte führen. Alle Teile sind unter diesem Link zu finden.

+

Zunächst war Aaron sich nicht sicher, ob sich tatsächlich jemand im Keller hinter ihm befand oder ob jemand – oder möglicherweise auch etwas – gerade wortwörtlich auf bestem Wege war, aus der Spiegelwelt herauszutreten wie in einem drittklassigen Horrorfilm. Doch diese Verwirrung hielt nur wenige Sekunden an, denn da hatte die Gestalt bereits begonnen, ihrer Verwunderung über das ungewöhnliche Kellergeschoss lautstark Ausdruck zu verleihen.

„Was zum Henker ist das alles hier? Ist das hier sowas wie ein geheimes unterirdisches Antiquitätenlager? Und warum sitzt du hier unten in einem Sessel und hörst dir diese creepy Klaviermusik an?“ Es war Thea. Der erste Schock hatte sich gelegt, nun schossen Aaron eine ganze Reihe von Fragen durch den Kopf. Wie war Thea hereingekommen? Hatte er vergessen, die Eingangstür zu schließen? Und was sollte er jetzt tun? Aus diesem Teil des Antikhofs hatte er Thea eigentlich erst einmal heraushalten wollen. Und nun stand sie mittendrin im geheimen Keller mit all seinen verfluchten, verhexten und vermaledeiten Stücken.

Aaron schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, um den Schleier der Müdigkeit aus seinem Körper zu vertreiben und stand mit wackligen Beinen auf. Sein Blick fiel auf die noch immer brennende Kerze neben seinem Sessel, die in der Zwischenzeit ein ordentliches Stück ihrer ursprünglichen Größe eingebüßt hatte. Er musste also mindestens eine Stunde geschlafen haben. Wenn nicht sogar länger. Aaron pustete die Kerze aus und räusperte sich. „Thea, das ist erstmal echt schön, dich zu sehen, andererseits habe ich heute gar nicht mit dir gerechnet, sonst hätte ich den Zugang zum Keller nicht offengelassen. Jetzt, da du das geheime Hauptquartier meiner Organisation entdeckt hast, darf ich dich leider nicht mehr gehen lassen und muss dich zu den anderen Gefangenen sperren. Wir haben hinten einige Zellen, es ist leider keine mehr frei, aber der vorwitzige Kobold wünscht sich schon lange ein wenig Gesellschaft. Kommst du freiwillig mit oder muss ich den Hausgeist holen?“

Thea grinste, dachte einen Moment lang nach und meinte dann schulterzuckend: „Abgelehnt. Manche Dinge sind einfach wichtiger als die geheimen Machenschaften deiner Untergrundorganisation. Mich interessiert zum Beispiel viel mehr: Was zum Teufel ist das alles hier? Und, noch viel wichtiger, lässt es sich verkaufen?“

Aaron dachte fieberhaft nach. Er entschied sich dafür, Thea nicht zu belügen, sondern lediglich einen Teil der Wahrheit zurückzuhalten. Den entscheidenden Teil. „Mein Großvater hat in den Jahrzehnten seiner Antiquitätenleidenschaft wohl ziemlich viel angehäuft und einiges davon scheint eben gar nicht so leicht verkäuflich zu sein – deshalb lagert es hier unten und staubt ein. Ich habe den Keller auch erst gestern… entdeckt… und kann dir noch gar nicht so richtig viel dazu sagen. Aber es scheint, als sollten wir uns zunächst einmal um die Sachen kümmern, die oben sind. Die hier unten müsste ich erstmal einer genaueren Betrachtung unterziehen. Und das wird ein wenig dauern und wäre für mich erstmal weiter unten auf der Prioritätenliste. Kannst du damit erstmal leben?“

Theas Gesichtsausdruck war anzusehen, dass es ihr gar nicht gefiel, auf diese Weise abgewimmelt zu werden. Sie hätte sich liebend gerne auf die ungewöhnlichen Stücke hier unten gestürzt, doch sie nickte schließlich. „Ich kann mir vorstellen, dass das alles auch für dich ziemlich überwältigend ist. Wir lassen es langsam angehen, ok?“ Aaron fiel ein Stein vom Herzen. Ihm war klar, dass er eine wichtige Entscheidung damit nur aufgeschoben hatte, aber es verschaffte ihm immerhin Zeit, darüber nachzudenken. Über die Entscheidung, ob er Thea in die Geheimnisse des Antikhofs einweihen sollte oder nicht.

Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zur Treppe. „Hast du jetzt eigentlich selbst Klavier gespielt eben oder war das irgendeine Art Tonband oder sowas?“ fragte Thea unvermittelt. Aaron runzelte die Stirn und murmelte vor sich hin: „Was habt ihr nur alle mit dem Klavier? Ich kann doch gar nicht Klavier spielen…“ Das war selbstverständlich nicht der cleverste Schachzug, doch Aaron war schließlich auch gerade erst unsanft aus seinem Mittagsschlaf gerissen worden und noch nicht wieder vollständig Herr seiner Sinne. „Wer ist „alle“?“ fragte Thea daher auch verwundert. Aaron fluchte innerlich und dachte angestrengt nach. Außer der Flucht nach vorne fiel ihm auch dieses Mal nichts besseres ein. „Naja, du und… der Hausgeist!“ Thea grinste wieder. „Ach, der, richtig. Vielleicht hat ja auch der Hausgeist eben Klavier gespielt?“ Aaron musste nun ebenfalls grinsen, als er sich vorstellte, wie John Aubrey mit ernster Miene an einem Klavier in einem viktorianischen Salon sitzend eine leise Melodie zum Besten gibt, um die anwesende Damenwelt zu verzücken. Plötzlich blieb er jedoch stehen.

„Thea, du hast also eben wirklich Klaviermusik gehört? Dann habe ich diese traurige Melodie gar nicht geträumt?“ Sein Verstand kam wirklich nur sehr langsam wieder auf Touren. Thea war ebenfalls stehen geblieben. „Was meinst du, warum ich die Treppe in den Keller überhaupt entdeckt habe? Ich bin reingekommen, hab die Musik gehört und bin ihrem Klang gefolgt. Das Loch im Boden hab ich fast übersehen, aber da hat mich ein eiskalter Luftzug gestreift, da hab ich‘s entdeckt. Dann bin ich ein paar Stufen runtergestiegen und hab erstmal das Licht eingeschaltet, war ja echt gruselig so zappenduster. Da hat die Musik aber auch direkt aufgehört. Ich dachte, du sitzt hier unten im Keller und spielst Klavier oder hörst dir auf irgendeinem schrägen Grammophon alte Platten an!“

Aaron runzelte die Stirn. „Thea, wie bist du eigentlich oben reingekommen? Ich dachte, ich hätte abgeschlossen!“ Thea machte einen enttäuschten Gesichtsausdruck. „Gut, wenn es das ist, was dich am meisten interessiert: Ich habe natürlich geklopft. Als du dich nicht gemeldet hast, hab ich probiert, ob die Tür abgeschlossen ist. Das war sie nicht. Also bin ich reingekommen und hab dich gerufen. Und weil du nicht geantwortet hast, hab ich dich gesucht. Dein Bus stand schließlich im Hof, ich war mir sicher, du bist hier irgendwo!“

„Oh, dann muss ich wohl ein ernstes Wörtchen mit dem Hausgeist reden, der hat dann nämlich nicht richtig aufgepasst“, meinte Aaron mit einem Augenzwinkern. Und blieb damit wieder einmal erschreckend nah an der Wahrheit. Er würde John tatsächlich fragen müssen, ob er heimlich die Tür aufgeschlossen hatte. Denn das schien ihm im Moment die plausibelste Erklärung zu sein. Thea sah Aaron derweil mit einer Mischung aus Amüsement und Besorgnis an. Sie wusste nicht genau, wie sie die Situation einschätzen sollte. Wahrscheinlich wirkte Aaron in diesem Moment wirklich etwas seltsam auf Thea. Er gab sich also einen Ruck und rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab, als sie an der Treppe ankamen. „Geh doch schonmal hoch, ich habe mein Handy hinten vergessen. Ich komme gleich nach. Und dann reden wir weiter, ja?“ Thea nickte zögerlich. „Na gut. Ausnahmsweise. Ich warte im Garten auf dich. Da ist die Luft besser!“

Als Aaron sicher sein konnte, dass Thea die Treppe wirklich nach oben ging, machte er sich auf den Weg zurück durch das Labyrinth der Gänge. Doch er schlug nicht die Richtung zum schwarzen Spiegel ein, denn sein Handy steckte selbstverständlich in seiner Gesäßtasche, wo es hingehörte. Aaron ging dorthin, wo er das Klavier vermutete. Er hatte es bei der ersten Besichtigung mit John nur kurz zu Gesicht bekommen, doch er fand den richtigen Weg auf Anhieb. Das Klavier stand an einer Außenwand zwischen verschiedenen größeren, teilweise verhangenen Möbelstücken. Das Instrument selbst war nicht mit einem Tuch verdeckt, dafür aber mit einer dicken Staubschicht überzogen. Zumindest zum größten Teil. Denn an den Tasten und am hochgeklappten Deckel war der Staub auf eine Weise verwischt, die keinen Zweifel zuließ: Jemand hatte vor Kurzem die Abdeckung geöffnet und auf den Klaviertasten gespielt. Und an einer Stelle konnte Aaron deutlich den Abdruck einer kompletten Hand erkennen. Einer Hand mit kleinen Fingern, der Hand eines Kindes. Bei diesem Anblick lief es ihm eiskalt den Rücken herunter und er schaute sich sofort hektisch nach allen Seiten um. Doch es war niemand zu sehen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ein scheußliches Gefühl, wie er fand. Deshalb machte er sich auch mit pochendem Herzen schleunigst auf den Weg zur Treppe. Wieder einmal sehnte er sich nach einer ordentlichen Portion Tageslicht. Den schwarzen Spiegel hatte er in diesem Moment bereits vollkommen vergessen. Und auch die Tatsache, dass er das Laken nicht mehr über ihn geworfen hatte. Dafür war ihm eine Idee gekommen.

„Ein Wackelkontakt in der Elektronik. Ich habe den Stecker gezogen!“ erklärte er Thea. Diese schaute ihn noch immer mit großem Unverständnis an. „Das Klavier, es ist so ein Scherzding, das von selbst spielt, aber es ist defekt. Deshalb steht es wohl auch im Keller. Ich schau es mir mal in Ruhe an. Vielleicht ist es ein lustiges Gimmick für den Laden, wenn Kinder vorbeikommen oder so.“ Er setzte sein unschuldigstes Lächeln auf und versuchte, so unverkrampft wie möglich zu wirken. „Und wenn du das Klavier repariert hast, dann…“ Thea dachte mit hochgezogenen Augenbrauen nach. „Dann trägst du es diese steile, enge Holztreppe hoch? Auf deinem Rücken?“ Sie stemmte die Arme in die Seiten und lächelte ihn herausfordernd an, wobei sie ihm direkt in die Augen sah. Sie hatte einen Punkt angesprochen, an dem Aaron passen musste. Darauf hatte er keine Antwort. Er versuchte es deshalb ein weiteres Mal mit dem Teil der Wahrheit, den er für angemessen hielt:

„Thea, ich hab doch auch keine Ahnung, wie mein Großvater das Zeug da runter gekriegt hat. Gib mir einfach ein bisschen Zeit, ein paar der Geheimnisse des Antikhofs für mich allein zu erkunden. Vor etwas mehr als einer Woche saß ich noch vollkommen entspannt an der Küste und sah der Sonne dabei zu, wie sie im Meer versank. Meine Zukunftsplanung bestand aus dem Wetterbericht für die nächsten drei Tage. Und dann hat es gefühlt einfach nur „Klick“ gemacht und jetzt bin ich Antiquitätenhändler. Und kein besonders guter, wie mir langsam scheint, denn gehandelt hab ich bisher noch gar nichts. Und von der Existenz des Kellers wusste ich bis gestern auch genauso viel – nämlich nichts. Das ist insgesamt das genaue Gegenteil für mich, nämlich ziemlich viel. Und herausfordernd. Kannst du dich ein bisschen in Geduld üben, bis ich für mich selbst einige Antworten gefunden habe?“ Thea überlegte. Dann wurde ihr verbissener Gesichtsausdruck weicher und ihre Körperhaltung entspannte sich. Sie nahm Aarons Hand und schaute ihm wieder in die Augen, dieses Mal mit einem Blick, den er so noch nicht oft bei Thea gesehen hatte:

„Vor einer Woche wusste ich nicht, dass ich dich so bald wieder sehen würde und wir plötzlich gemeinsam an der Rettung eines alteingesessenen Antiquitätenhandels arbeiten würden. Vielleicht ist das auch für mich eine ziemlich unerwartete Wendung in meinem Leben. Um ehrlich zu sein, ich war zuletzt etwas gelangweilt von… allem? Und ich wusste nicht, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Mit meinem Studium. Mit der Tatsache, dass ich hierher zurückgekommen bin und jetzt in der tiefsten Provinz rumhänge. Vielleicht bin ich einfach nur aufgeregt, weil hier endlich mal was passiert, was so ganz anders ist als alles, was ich bisher gemacht habe.“ Sie atmete durch. „Aber du hast natürlich recht: Das ist jetzt dein Antikhof. Und du bestimmst das Tempo. Ok?“

Aaron wusste nicht, was ihn mehr überraschte. Die Tatsache, dass Thea ihr Leben in Frage stellte, das von außen betrachtet doch so perfekt durchgeplant zu sein schien oder die Tatsache, dass er die Berührungen ihrer Hände auf eine vollkommen neue Art und Weise wahrzunehmen begann. Beides verwirrte ihn mehr, als er sich gerade eingestehen wollte. Etwas verlegen nickte er, zog seine Hand zurück und meinte unsicher lächelnd: „Danke dir. Und jetzt zeig mal, was du mitgebracht hast!“ Er deutete auf Theas Tasche, aus der ein Zeichenblock herausragte. Dieser Themenwechsel kam Thea wohl ebenfalls gelegen, denn sie nickte aufgeregt: „Oh, ja, richtig – ich habe die Logo-Entwürfe fertig. Ich habe alles per Hand gemacht. Um nicht aus der Übung zu kommen. Und weil ich es irgendwie passend finde für ein Traditionsgeschäft wie dieses.“

Sie zog den Block heraus und zeigte stolz ihre Ergebnisse. Aaron war wirklich beeindruckt. Thea präsentierte ihm eine große Auswahl an modernen, aber daneben auch einigen eher konservativen Entwürfen. Nach längerem Überlegen, Sortieren und Diskutieren einigten sie sich schließlich auf einen der altmodischen Entwürfe. Das Logo zeigte im Zentrum die Buchstaben „A“ und „P“, die zu einem einzigen Buchstaben verschmolzen zu sein schienen. Aaron mochte dabei besonders den Gedanken, dass das „A“ sowohl für „Antikhof“, als auch für „Anton“ oder „Aaron“ stehen konnte. Um die Buchstaben herum hatte Thea einen ovalen, reich geschmückten und antik anmutenden Rahmen gezeichnet. Das Logo wirkte alles andere als modern und crazy – aber irgendwie fand er es so genau passend für den Antikhof Pfundeisen. Seinem Großvater hätte es sicher gefallen.

„Hast du die Domain schon gesichert?“ fragte Thea. Aaron nickte. „Dann werd ich das Logo mal heute Abend digitalisieren und dir durchschicken. Dann kannst du die Homepage schonmal mit ein bisschen Leben füllen. Ich muss jetzt leider weiter. Ich hab gleich noch eine Schicht im Gasthof. Die Biergartensaison hat begonnen. Es wird ordentlich was los sein. Und du passt auf dich auf, ja?“ Wie genau sie den letzten Satz meinte, wusste Aaron nicht. Aber er hatte ebenfalls das Gefühl, dass er aufpassen musste. Doch als erstes musste er wohl ein Gespräch mit einem gewissen Hausgeist führen.

+

„Du hast sie reingelassen, oder?“ Aaron hatte John auf der Ladenfläche in einer dunklen Ecke wartend gefunden. John Aubrey schien nervös zu sein. Doch nun reckte er empört das Kinn in die Höhe, straffte den Rücken und lamentierte im Brustton der Überzeugung: „Wo denkt ihr hin, mein Herr Pfundeisen, das geziemte sich ganz und gar nicht für einen… wie sagtet ihr so schön?  Hausgeist meines Formats! Und wie sollte ich es wohl bewerkstelligen, mit meinen geisterhaften Händen den massiven Schlüssel zu ergreifen? Vielleicht wart ihr ja ein wenig kopflos zuletzt und habt vergessen, die Tür zu verriegeln?“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Doch so ganz ungelegen kam die junge Dame nicht, das muss ich wohl zugeben. Ich habe das Klavier gehört, aber ich sollte ja nicht nach unten kommen. Da dachte ich, vielleicht kann ja euer Besuch nach dem Rechten sehen!“ John sah Aaron herausfordernd in die Augen. Er wäre nun glatt als geisterhafte Thea-Imitation durchgegangen. Zumindest, wenn er ein Dirndl getragen hätte. Auch dieses Bild John Aubreys vor seinem inneren Auge brachte Aaron zum Schmunzeln.

Dann seufzte er und wechselte das Thema, als er fragte: „Was ist das für ein kranker Scheiß mit dem Klavier?“ John Aubrey legte wieder einmal die Stirn in Falten. „Wie meinen?“ „Warum spielt das Klavier von alleine? Nein, die Frage ist falsch. Was ist da unten und spielt auf dem Klavier? Ich habe Fingerabdrücke gefunden… Und Handabdrücke… Von Kinderhänden!“ John Aubrey runzelte die Stirn. „Hmm… Wenn ich das nur wüsste… Vielleicht ist es eines der ersten Geheimnisse, die ihr als neuer Besitzer des Antikhofs herausfinden werdet? Mit meiner werten Hilfe?“ Aaron blickte verwundert zu John Aubrey hinüber. Dieser bemerkte die Verwirrung und meinte: „Nun, ich hatte den Eindruck, dass ihr bereit wäret, den Antikhof weiterzuführen – mit all seinen wunderbaren und einzigartigen Facetten!“ Aaron seufzte ergeben. John hatte recht.

Aaron schloss die Augen und setzte sich auf einen der Stühle in der Ausstellungsfläche. „Vielleicht kannst du mir eine andere Frage beantworten: Wie habt ihr die ganzen Sachen da runter gekriegt?“ Jetzt grinste John Aubrey wieder einmal vergnügt. „Ich dachte schon, ihr fragt nie danach. Es gibt natürlich einen Lastenaufzug!“ Aaron fiel beinahe die Kinnlade herunter. „Wie bitte?“ John Aubrey nickte eifrig. „Selbstverständlich. So ein Klavier oder einen Schrank trägt man nicht huckepack eine steile Holztreppe hinunter.“ Aaron schloss die Augen und atmete tief durch. „Nun wundert mich auch gar nicht mehr, wie ihr die ganzen Einnahmen wieder loswerden konntet. Was kostet denn bitte ein privater Lastenaufzug?“ John Aubrey hob beschwichtigend die Hände: „Stellt es euch nicht allzu komfortabel vor! Der Aufzug läuft nicht mit Elektrizität…“ „…sondern mit Hydraulik!“, ergänzte Aaron schlagfertig. John Aubrey stutzte: „Nein, mitnichten, wie kommt ihr darauf?“ Er schüttelte den Kopf. „Mit Muskelkraft selbstverständlich! Es gibt eine Handkurbel. Sie ist natürlich mehrfach mit Zahnrädern übersetzt, so dass es überhaupt möglich ist, mit der Kraft eines einzelnen Mannes schwere Lasten zu bewegen. Daher dauert eine Fahrt auch eine gewisse Zeit… Wollt ihr vielleicht mal testen?“

Aaron war wieder einmal geplättet von diesen Neuigkeiten. Aber er war auch in mindestens gleichem Maße neugierig. Er erhob sich also und verbeugte sich mit den Worten: „Wohlan, werter Herr. Zeigt mir den geheimen Lastenaufzug des Antikhofs Pfundeisen!“ Dann lächelte er John Aubrey an. Dieser entspannte sich und zwinkerte Aaron zu: „So gefallt ihr mir, mein Herr Pfundeisen!“

John ging also voran in eine der hintersten Ecken der großen Ladenfläche im ehemaligen Scheunengebäude. Hier standen einige größere Schränke akkurat nebeneinander. Tageslicht fiel in diesem Teil kaum herein und auch die künstliche Beleuchtung konnte hier nur noch für spärliche Helligkeit sorgen. „Fällt euch an den Schränken etwas auf?“ fragte John Aubrey. Aaron versuchte, sich als genauer Beobachter ein Bild der Situation zu machen. Er trat an die Schränke heran, befühlte die Oberflächen, schnupperte an ihnen und besah sich die Stellen besonders genau, an denen die Schränke aneinanderstießen. „Die sind fake, oder?“ John Aubrey nickte erfreut. „So könnte man es lapidar ausdrücken. Es sind keine echten Schränke, schon gar keine Antiquitäten, sie erwecken nur den Anschein. In Wirklichkeit sind sie reine Fassade. Es fällt in dieser Beleuchtung kaum auf, findet ihr nicht auch?“ Er betrachtete sie mit stolz geschwellter Brust, als hätte er sie selbst mit seinen eigenen Händen hergestellt. „Und wie bekomme ich sie auf?“ fragte Aaron mit wachsender Ungeduld. „Seht her, hier in der Mitte. An diesen beiden Knäufen lassen sich die einzelnen Elemente zu den Seiten hin, einer Ziehharmonika gleich, auseinanderschieben. Man muss sie nur gleichzeitig aufeinander zu drehen, also den linken mit und den rechten entgegen dem Uhrzeigersinn. Probiert es gerne aus!“

Aaron trat also näher, griff die beiden kugelförmigen Griffe fest mit beiden Händen und drehte sie aufeinander zu. Es klickte leise und die Türen ließen sich tatsächlich in der Mitte auseinanderziehen. Und mit ihnen auch die Türen der benachbarten Schränke, die gesamte Fassade entlang. Eine Öffnung mit sicherlich vier Metern Breite entstand auf diese Weise. Da die falschen Schränke keine Deckel oder Abdeckplatten an der Oberseite besaßen, konnte man nun eine raumhohe Nische betreten. Und da der Raum in diesem Bereich ja bis zu den Dachbalken reichte, hatte zumindest in der Höhe mit keinerlei Einschränkungen beim Lastentransport zu rechnen. Der Boden bestand aus einer offensichtlich sehr stabilen Stahlplatte, die den gesamten Raum ausfüllte, der sicherlich an die drei Meter tief war. An der rechten Seite ragte eine Art Säule aus der Bodenplatte empor, an welcher die von John erwähnte Handkurbel angebracht zu sein schien. Nur wartete diese überraschenderweise mit der stattlichen Erscheinung eines antiken Steuerrades eines Piratenschiffes auf. Vielleicht war sie das aber auch einfach tatsächlich. Das ausrangierte Steuerrad eines echten Piratenschiffes. Aaron hielt das inzwischen durchaus für möglich.

„Wollen wir denn nun?“ fragte John Aubrey und machte eine einladende Geste. Dann trat er hinter das Steuerrad und sah Aaron erwartungsvoll an. So, als würde er als Steuermann den Kurs nur auf den ausdrücklichen Befehl des Kapitäns hin ändern. „Alle Mann an Deck, hart Steuerbord, ans Ruder ihr Landratten, Mast- und Schotbruch“, rief Aaron mit tiefer Stimme und mit rollendem „rrr“. John Aubrey runzelte einmal mehr die Stirn und murmelte: „Das macht in Gänze wirklich keinen Sinn, aber ich nehme an, es heißt Ja!“ Und so begann er, am Steuerrad zu kurbeln, offenbar unter Aufbietung all seiner Kräfte. Das Steuerrad drehte sich schließlich in ordentlichem Tempo, die Bodenplatte senkte sich jedoch nur zentimeterweise und wie in Zeitlupe hinab.

„Spektakulär!“ murmelte Aaron erstaunt. Doch er meinte damit nicht die atemberaubende Schneckengeschwindigkeit der Fortbewegung, sondern etwas anderes, das sich in diesem Moment in seinem Kopf als plötzliche Erkenntnis breit machte. „John, wieso kannst du das Steuerrad drehen? Mit deinen geisterhaften Händen?“ John Aubrey verharrte für einen Moment, blickte auf und ein schelmisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht. „Nun, mein Herr Pfundeisen, da habt ihr mich doch glatt ertappt. Ihr fragt euch wie das hier möglich ist“, er deutete auf das Steuerrad, kam dann nah an Aaron herangetreten, „und das hier nicht!“ Bei diesen Worten streckte er zunächst seinen Arm aus und ließ ihn dann langsam herabsinken, so dass die Fingerspitzen Aarons Brust berührten. Beziehungsweise, eben dies nicht taten. Johns Finger tauchten geradewegs in Aaron hinein, was diesem einen eiskalten Schauer durch den Körper jagte. Ein Gefühl, das er aus Kindheitstagen kannte. Aaron schüttelte sich. „Mann, John, das ist echt gruselig. Aber ja, das wäre wohl meine durchaus berechtigte Frage: Wieso kannst du Gegenstände berühren, aber mich nicht?“

John Aubrey räusperte sich. „Würdet ihr vielleicht das Steuerrad übernehmen, während ich euch einen Crashkurs in Sachen Geister-Ein-Mal-Eins gebe?“ Aaron verbeugte sich. „Sehr wohl. Doch erlaubt mir zu bemerken: Es heißt nicht Geister-Ein-Mal-Eins, sondern Suchende-Seele-Ein-Mal-Eins, richtig?“ Er zwinkerte dem verdutzten John zu und stellte sich hinter das Steuerrad, streckte sich einmal theatralisch, ließ seine Arme kreisen und begann, mit dramatischer Mimik zu kurbeln. John Aubrey hatte wieder einmal eine Augenbraue erhoben, bedachte Aarons Vorführung jedoch mit keinem weiteren Kommentar.

„Nun, denn, ich habe die ersten Jahre als suchende Seele“, an dieser Stelle hielt er kurz inne und nickte Aaron zu, „hauptsächlich damit verbracht, herauszufinden, was mit mir los war und was dieser Zustand zu bedeuten hatte. Was ich euch sagen kann, ist folgendes: Eine suchende Seele ist grundsätzlich ganz und gar nicht in der Lage, irgendetwas in der irdischen Welt zu ergreifen. Die suchende Seele befindet sich auf einer anderen Realitätsebene, in einer anderen Dimension, wenn ihr so wollt. Doch es gibt Überschneidungen mit der euren Welt. Diese kleinen Portale, wenn man es so nennen mag, entstehen besonders dann, wenn die Seele mit einem Gegenstand eine besonders schöne oder in bedauernswert vielen Fällen eine besonders grausame Erinnerung verbindet. Wenn also eine innige Beziehung jedweder Art bestand. Es bleibt dann häufig ein Hauch der Seele zurück, eine Seelenspur sozusagen und somit eine kleine Tür zwischen den Welten. Doch auch einen solchen Gegenstand könnte die Seele nicht einfach ergreifen, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne, denn sie besteht nun einmal nicht aus Materie. Es ist mehr ein Umfließen mit Energie, eine Manipulation durch die kosmischen Kräfte, deren Vorstellung unseren Verstand gänzlich zu übersteigen vermag. Doch dadurch kann die Seele einen Gegenstand mit einiger Übung und unter redlichem Bemühen dann sogar bewegen. Deshalb spukt es auch so gerne in uralten Gemäuern, wohingegen der Neubau weitgehend davon verschont bleibt. Und antike Schmuckstücke sind nicht selten den Kräften mehrerer Seelen unterworfen, in deren geschätztem Besitz sie sich über die Jahrhunderte hinweg befunden haben, im Gegensatz zum ordinären Modeschmuck der Neuzeit.“

John Aubrey machte eine kurze Pause in seiner Erzählung. Aaron betrachtete das Stück des Weges, das sie bereits in Richtung Kellergeschoss zurückgelegt hatten. Es war gar nicht mal so groß, denn noch ragten ihre Oberkörper weit in das Erdgeschoss hinein, wogegen die Beine bereits von der kühlen Kellerluft wie mit klammen Fingern umschmeichelt wurden. Aaron kurbelte unentwegt und schaute mit neugierigem Blick zu John Aubrey hinüber. Dies schien diesem als Aufforderung zum Fortfahren der Erzählung zu genügen:

„Nun müsst ihr wissen, dass ich kein ordinärer Geist bin, auch keine gewöhnliche wandelnde oder suchende Seele, denn ich habe ja dies hier in meinem Besitz“, er nestelte mit seiner Hand in seiner Hosentasche und brachte etwas zum Vorschein, das auch in seiner blassen, geisterhaften Gestalt eindeutig zu erkennen war als Bruchstück des geheimnisvollen Steins, der vom Himmel gefallen war. „Der Stein eröffnet mir eine Art ständiges Portal, eine dauerhafte Möglichkeit der Interaktion. Ich kann durch höchste Konzentration gar frei entscheiden, ob ich durch eine Wand hindurchgleiten oder mich an sie lehnen möchte, eine Treppe Stufe für Stufe erklimmen oder über sie hinweg schweben möchte. Nur Eisen stellt ein unüberwindbares Hindernis für mich wie für jede andere Seele dar“, er deutete auf die Stahlplatte unter ihren Füßen. Dann deutete er auf Aaron: „Und nichts, was seinerseits eine Seele besitzt, kann ich greifen oder manipulieren, es entzieht sich vollständig meiner Kontrolle. Das sind die unumstößlichen Grundgesetze meines Daseins.“

In diesem Moment tauchten ihre Köpfe in das Kellergeschoss ein, das noch vollkommen im Dunkeln lag. Jetzt erst fiel Aaron auf, dass auch die Rückwand Teil des Aufzugs war und sich mit ihnen zusammen nach unten bewegte. An ihr waren zwei kleine Wandleuchten angebracht, die scheinbar über eine Art Dynamo mit Strom versorgt wurden und im Rhythmus seiner Kurbelbewegungen flackerten und einen kaum mehr als trüben Schein verbreiteten. Beim Thema Treppe war Aaron allerdings hellhörig geworden. „Wie ist es eigentlich mit der Treppe ins obere Stockwerk… Hast du mich heimlich besucht, als ich hier die erste Nacht geschlafen habe?“ John Aubrey hob abwehrend die Hände: „Oh nein, das würde ich nicht wagen. Das war eine eiserne Regel zwischen eurem Großvater und mir“, er grinste, als er das Wort „eisern“ besonders betonte. „Und ich gedenke, diese Regel auch weiterhin einzuhalten! Doch wenn ihr Wert darauflegt, dort oben auch von anderen wandelnden Seelen verschont zu bleiben, dann solltet ihr darauf achten, die Kordel mit dem Schild „privat“ an der Treppe immer über die Stufe zu spannen, wenn ihr oben seid. Die Kordel ist nämlich ebenfalls mit Eisenfäden durchwebt und bietet einen gewissen Schutz.“

Aaron blickte erschrocken zu John hinüber: „Von anderen wandelnden Seelen verschont bleiben? Welche anderen Seelen wandern hier denn noch so herum?“ John Aubrey lächelte amüsiert: „Mein Herr Pfundeisen, im Augenblick ist mir nicht bekannt, dass noch weitere Suchende zugegen sind.“ Er stockte und schien zu überlegen. „Jedenfalls nicht in den oberirdischen Stockwerken. Doch dies kam selbstverständlich in der Vergangenheit immer wieder vor. Das bringt dieses Geschäft hier nun einmal mit sich, nicht wahr? Und dann gab es natürlich auch immer wieder Situationen, in denen man sich gewünscht hätte, es nur mit einer wandelnden Seele zu tun zu haben, das könnt ihr mir glauben!“ Er lachte.

Aaron konnte wieder einmal nur stumm den Kopf schütteln und sich seinen Teil denken. Da er das Thema „schlimmer als Geister“ in diesem Moment nicht vertiefen wollte, meinte er nur: „Gut. Sei es drum. Die Kordel mit den Eisenfäden hält also zumindest die wandelnden Seelen davon ab, mir in der Nacht an die Gurgel zu gehen?“ John Aubrey hob tadelnd den Zeigefinger. „Herr Pfundeisen Junior – ihr habt doch gehört und gespürt, dass es mir nicht möglich ist, euren Hals zu packen und zuzudrücken! Meine Hände würden durch ihn hindurchgleiten wie durch Wasser. Ihr würdet einen kleinen Kälteschauer erfahren, doch sonst würde nichts weiter geschehen.“ Er schüttelte noch einmal fassungslos den Kopf über eine solche Unwissenheit. Dann fügte er nach kurzem Zögern hinzu: „Ein Dämon wäre eventuell in der Lage dazu, doch die sind sehr selten und das Eisen schützt auch vor ihnen ganz gut, soweit wir wissen… Seid also ganz unbesorgt!“ Er grinste und reckte den rechten Daumen ermutigend in die Höhe. Dann zeigte er auf den Boden zu ihren Füßen: „Daher ist diese Platte hier auch aus Stahl, das ja bekanntlich hauptsächlich aus Eisen besteht. Und die Bodenluke drüben bei der Treppe trägt ebenfalls eine entsprechende Schutzschicht, Kellerdecke und -wände bestehen aus Stahlbeton. Da fällt mir ein: Habt ihr die Kellerluke vorne wieder verschlossen?“

Der immer noch ziemlich fassungslose Aaron dachte nach. „Ja, ich meine, ich habe den Mechanismus betätigt.“ John schien erleichtert. „Gut. Sicher ist schließlich sicher, nicht wahr?“ Aaron blickte nach oben und wollte gerade seiner Besorgnis darüber Ausdruck verleihen, dass ungebetene Gäste sicher auch durch den nun geöffneten Aufzugsschacht nach oben gelangen könnten. Doch sofort erkannte er, dass sich eben dort im Takt der Bewegung gerade eine Abdeckung in die Öffnung schob und diese zu schließen begann. John Aubrey schwellte wieder einmal voller Stolz die Brust: „Ihr seht, wir haben an alles gedacht!“

Aaron notierte sich auf seiner immer länger werdenden imaginären Liste mit dem Titel „Themen, die John mir noch genauer erklären sollte“ das Stichwort „Dämonen“. Dann atmete er schließlich tief durch, richtete den Rücken gerade und meinte im Brustton der Überzeugung: „So, John, gut, dass wir darüber gesprochen haben, bei nächster Gelegenheit können wir das sicher vertiefen. Jetzt kurble ich mal ein bisschen schneller für den Endspurt, dass wir endlich unten ankommen und uns um den schwarzen Spiegel kümmern können. Den möchte ich nämlich gerne oben haben!“ Aaron betrachtete gut gelaunt, wie der sowieso schon recht blasse John Aubrey noch durchscheinender zu werden schien und die Augen entsetzt aufriss. John schenkte sich jedoch eine warnende Bemerkung, denn Aarons Stimmung ließ keinen Zweifel daran zu, dass er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Und was hatte eine suchende Seele dagegen schon auszurichten?

Sie bemerkten es beide gleichzeitig, kurz bevor sie den Kellerboden erreichten: Eine leise, traurige und etwas schräge Klaviermusik drang plötzlich aus der Tiefe des Kellers an ihre Ohren. „Pachelbel. Kanon, D-Dur“, flüsterte John Aubrey leise. Als der Fahrstuhl seine finale Position erreicht hatte und mit einem kurzen Quietschen zum Stillstand gekommen war, taten es ihm die beiden Männer gleich und standen für einige Sekunden schweigend und bewegungslos in der Dunkelheit. Während Aaron noch überlegte, wie es weitergehen sollte, klickte etwas neben ihm und die Kellerbeleuchtung tauchte sie in ihr unheimlich schummriges Licht. Gleichzeitig verstummte die Klaviermusik. Neben ihm stand John Aubrey mit der Kordel in der Hand, mit der man hier ebenfalls die Lampen schalten konnte. „John, wenn hier unten etwas unterwegs ist, das auf dem Klavier spielen kann, dann wird es durch das Licht nicht verschwinden, das ist dir schon klar?“ John Aubrey schaute brüskiert: „Selbstverständlich ist mir das klar. Doch ich mag diesen Keller in der Dunkelheit nicht. Er wirkt dann so unheimlich.“ Er schüttelte sich angewidert. Aaron musste grinsen. Sein Hausgeist fürchtete sich also in einem dunklen Keller. Doch er verkniff sich jegliche Bemerkung, um John nicht bloßzustellen.

„Also“, begann Aaron. „Sollte es sich um einen Geist handeln, der hier unten Klavier spielt, Verzeihung: Um eine Seele! Dann kann ihr das nur gelingen, wenn ihr das Klavier zu Lebzeiten etwas bedeutete, ihr vielleicht sogar gehörte, eng mit ihrem Tod verknüpft ist oder irgendetwas in der Art. Habe ich Recht?“ John Aubrey nickte anerkennend. „Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verhält es sich so, ja.“ Aaron dachte weiter nach. „Und den Handabdrücken nach ist es der Geist eines Kindes oder vielleicht einer sehr kleinen Frau. Oje, da bekomme ich eine Gänsehaut und muss an sämtliche Filme denken, in denen diese grässlich aussehenden Geisterfrauen in weißen, besudelten Nachthemden und mit diesen langen schwarzen Haaren mit ausgestreckten Armen auf die Protagonisten zulaufen, die dann wie gelähmt sind vor Angst. Scheußlich!“ Jetzt schüttelte sich Aaron.

John Aubrey schüttelte auch, aber dieses Mal nur empört den Kopf: „Diese Hollywoodversion einer wandelnden Seele ist eine Unverschämtheit. Wie ihr ja bereits von mir erfahren habt, manifestiert sich eine Seele in der Form, in der sie sich am besten gefiel, also in schönen Kleidern und unversehrt, in der Blüte des Lebens. Ich habe Geisterfrauen gesehen, da würde euch Hören und Sehen vergehen und ihr würdet euch wünschen, sie könnten euch berühren und nicht nur durch euch hindurchgleiten! Wobei das natürlich besser ist als nichts, wenn ihr jahrhundertelang auf diese körperlose Form reduziert seid. Man beginnt mit der Zeit sogar, es angenehm prickelnd zu finden, wenn ihr versteht, was ich meine!“ John zwinkerte Aaron verschwörerisch zu. Aaron rieb sich die Augen, murmelte „Oh mein Gott…“ und notierte auf seine imaginäre Liste „Geister-Sex“ – mit dem Zusatz: Wenn ich mal wirklich, wirklich nichts Besseres zu tun habe.

Aaron schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Also“, begann er schließlich. „Sollte es, wie wir jetzt einfach mal weiter annehmen, eine wandelnde Seele sein, die regelmäßig auf dem Klavier spielt, dann sollten wir einen Weg finden, mit dieser Seele vorsichtig und behutsam in Kontakt zu treten. Denn offensichtlich möchte sie eigentlich gar nicht, dass wir sie entdecken. Sonst würde sie sich nicht vor uns verstecken, oder?“ John Aubrey nickte zustimmend: „Das ist nicht außergewöhnlich. Viele suchende Seelen sind in den ersten Jahren, gar Jahrzehnten ihrer körperlosen Existenz erst einmal gehörig verwirrt, denn sie wissen noch nicht viel über ihren Zustand. Sie vermeiden es, gesehen zu werden. Manchen muss man dann dabei behilflich sein, ihre Bestimmung zu finden, so dass sie in die Ewigkeit des Jenseits eintreten können. Diesen Teil hat die Literatur stellenweise sogar sehr treffend beschrieben!“

John und Aaron schritten mit angespannter Mine durch die Gänge und näherten sich schließlich dem Klavier. Es fiel kaum Licht auf das alte, verstaubte Instrument. Natürlich war auch dieses Mal nichts von einem geisterhaften Klavierspieler zu sehen oder zu hören. Dennoch fühlte sich Aaron wieder von unsichtbaren Augen beobachtet und sein Nacken kribbelte unter einer beeindruckenden Gänsehaut. Er zwang sich, nicht schon wieder hektisch nach allen Seiten zu schauen, denn schließlich drohte ihm durch Geister keine Gefahr. Zumindest wenn Johns Crashkurs mit halbwegs belastbaren Fakten hatte aufwarten können. Aaron schloss die Augen, atmete durch und versuchte, sich ganz in diesen Moment fallen zu lassen. Etwas, das er in seiner Zeit auf Reisen oft getan hatte, um sich selbst zu erden und wieder klar denken zu können. Ein Schluck aus seiner Teekanne hätte vielleicht auch geholfen, doch diese lag seit Tagen unberührt in seinem Schlafzimmer. Merkwürdig, wie schnell sich liebgewonnene Rituale verlieren, wenn man sich in einer Ausnahmesituation wieder findet. Aarons Herzschlag beruhigte sich und er öffnete seine Augen nach wenigen Sekunden wieder.

Er trat näher an das Klavier heran und betrachtete es das erste Mal genauer. Er kannte sich in diesem speziellen Metier nicht sonderlich gut aus, doch dieses Exemplar sah wirklich alt aus. Und es war in keinem guten Gesamtzustand. Er strich über die linke Seite des Holzkorpus, die eine merkwürdige schwarze Färbung trug und sogar leicht verformt aussah. Danach betrachtete er seine Fingerkuppen, die sich ebenfalls schwarz gefärbt hatten. Vorsichtig führte er seine Finger zur Nase und roch daran. Eindeutig Brandgeruch. Die linke Seite des Klaviers war wohl einmal einem größeren Feuer ausgesetzt gewesen. An einer Stelle hatte er aber eine Art Kante ertasten können. Er besah sich diese Stelle genauer, fuhr mit den Fingern an der kleinen Erhebung entlang. Ein kleines Rechteck hob sich auf der verbrannten Seite deutlich vom hölzernen Untergrund ab. Er nahm den Saum seines Ärmels in die Finger und rieb über die Stelle. Ein kleines, mit Nägeln befestigtes Blechschild kam zum Vorschein. Er versuchte, die Buchstaben auf dem verbogenen Stück Metall zu entziffern: „Heimstatt der Waisen, Maria von göttlicher Gnade“, las er im Flüsterton.

„Es war ein verheerender Brand, doch wie durch ein Wunder wurde damals niemand getötet.“ John war ebenfalls neben das Klavier getreten. Aaron sah in fragend an. „Was weißt du über seine Herkunft?“ fragte er. „Nicht viel“, John Aubrey strich gedankenverloren über das Klavier. Dabei verwischte er zunächst die Staubschicht, bis seine Fingerkuppen in das Holz glitten, als sei es nur eine Projektion und keine Spuren mehr hinterließen. Ein faszinierender Anblick. „Wir haben einige Möbelstücke mit Brandschäden erstanden. Das Waisenhaus brannte vor etwas mehr als drei Jahrzehnten, der Dachstuhl und Teile des obersten Geschosses fielen den Flammen zum Opfer. Die Kinder konnten gerettet werden und die Betreiber verkauften die beschädigten Stücke der Einrichtung, die teilweise schon mehrere hundert Jahre dort in Gebrauch waren. Euer Großvater kaufte das Klavier, den großen Schrank hier“, er zeigte auf etwas globiges, massives unter einem Tuch gegenüber, „und einige kleinere Möbelstücke. Letztere sind schon vor langer Zeit verkauft worden. Den Schrank schafften wir aber irgendwann hier herunter, denn eine der Türen ließ sich nicht öffnen und wir vermuteten einen paranormalen Grund dafür. Das Klavier folgte ihm. Ich denke, das war die richtige Entscheidung, wie wir nun feststellen, nicht wahr?“

Aaron dachte eine ganze Weile nach. Dann seufzte er schließlich: „Das sind eine ganze Menge Rätsel. Ein Schrank mit magisch versiegelter Tür, ein geisterhaft spielendes Klavier und ein schwarzer Spiegel, der möglicherweise ein Tor in eine andere Welt öffnen kann. Und ich vermute, das ist nur ein Bruchteil all jener Rätsel, die hier unten auf uns warten?“ John Aubrey nickte lächelnd. „So verhält es sich wohl, mein Herr Pfundeisen.“

Aaron atmete einmal mehr tief durch und fragte dann unvermittelt und mit einem Leuchten in den Augen: „Sag mal, kannst du Klavier spielen?“ John Aubrey trat einen Schritt zurück und erwiderte misstrauisch: „Ja, ein wenig. Wieso fragt ihr?“ Aaron lächelte geheimnisvoll: „Kannst du mir das Klavierspielen beibringen? Und können wir anfangen mit – beispielsweise, nur so als Idee – mit dem Kanon in D-Dur von Pachelbel?“ Er sah John fest in die Augen. Dieser dachte nach und verzog dann seinen Mund zu einem breiten Grinsen: „Das lässt sich einrichten, Sir. Ich nehme an, das gehört zu einem Plan, den ihr gerade ersonnen habt?“ „Einen Plan würde ich es noch nicht nennen, John. Es ist eher eine vage Idee. Ein Bauchgefühl. Wir werden sehen, was daraus wird.“ Er betrachtete noch einmal das Klavier. Dann sagte er abrupt: „Doch jetzt möchte ich mich um den Spiegel kümmern.“ „Oh!“ Johns Fröhlichkeit war schlagartig verschwunden und wich wieder einer ernsthaften Besorgnis. „An diesem Plan haltet ihr also auch noch fest.“

Es war nicht zu übersehen, dass Johns Schritte langsamer wurden, je näher sie dem Korridor mit dem schwarzen Spiegel kamen. Sie bogen um eine Ecke und gingen nun geradewegs auf diesen zu. Das mit Eisenfäden durchwebte Tuch lag noch immer auf dem Boden. Aaron blieb abrupt stehen, als er es bemerkte. Ja, in der Tat, er wurde wohl langsam etwas kopflos. Doch wen wunderte dies schon bei all dem, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war. Hinter sich hörte er John erschrocken nach Luft schnappen. Aaron drehte sich um und sah in Johns schreckensbleiches Gesicht. John hatte den Arm erhoben und zeigte mit zitternder Stimme auf den Boden: „Da, das…“ Aaron nickte und hob beschwichtigend die Hände: „Ich weiß, John, ich hab‘s vergessen, ich mach es gleich wieder drüber, ok? Und dann brauchen wir wahrscheinlich noch eine Sackkarre. Mist, warum hab ich da nicht gleich dran gedacht…“

Er schaute sich suchend um. John stand noch immer wie erstarrt da, fand aber seine Stimme wieder: „Nicht das Tuch. Da, auf dem Boden. Der Salzkreis!“ Aaron drehte sich um und folgte Johns Blick. Nun erstarrte auch er vor Schreck. Der Salzkreis war an einer Stelle sichtbar beschädigt. So, als sei jemand darauf getreten, hätte beim Durchschreiten die Linie verwischt, ein wenig Salz noch an den Füßen mitgetragen, bis sich die Spur im Korridor verlor. Das Scheppern einige Meter über ihnen konnten sie im geschlossenen Keller kaum wahrnehmen.

+

An dieser Stelle muss sich er geneigte Leser nun erst einmal gedulden - das nächste Kapitel ist zwar bereits in Arbeit, aber offensichtlich noch nicht fertig gestellt...

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert